Dr. Heinz Schilling • Professor für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main

|Aufsätze|



Heinz Schilling:
Emma Bovary reloaded oder Versuch einer Aktualisierung der großen Gefühle der kleinen Bürger


Der Ort

Der Ort heißt noch Yonville l'Abbaye, er hat dreitausend Einwohner, liegt im Département Seine-Maritime, Autokennzeichen 76, und ist 90 Kilometer von Le Havre, 80 von Amiens entfernt, und 36 Kilometer südwestlich ist Rouen. Autobahntechnisch liegt das Dorf etwa auf halber Strecke zwischen Le Havre und Amiens, da etwa, wo A 28 und A 29 zusammenkommen. Yonville l'Abbaye ist heute Zentralort einer größeren Gemeinde namens Yonville mit insgesamt 12.000 Einwohnern. Der sozialistische Bürgermeister heißt Ronnie Tuvache.

Es gibt das historische Yonville l'Abbaye mit Kirche und Rathaus an der Place du Marché, dem Collège Guilleaume-le-Conquerant (Realschule "Wilhelm der Eroberer"), der Praxis des Docteur Vannicatte, dem Friedhof und den Resten der Kapuzinerabtei sowie - etwas außerhalb - dem Schloss Vaubyessard. Es gibt 3 Bäcker, 2 Metzger, 2 Blumengeschäfte, 2 Supermarchés, 1 Tabac, ferner 5 Baugeschäfte, 3 Allgemeinmediziner, 3 Orthopäden, 3 Hebammen, 1 Apotheke und 1 Zahnarzt. Schließlich noch 17 landwirtschaftliche Betriebe. Drei Betriebe haben vor einigen Jahren zugemacht und ihre Felder teuer an den neuen Golfclub verkauft. Von Alters her wird am letzten Augustwochenende die Landwirtschaftsausstellung begangen, ein Anziehungspunkt für die ganze Region zwischen Rouen und Dieppe.

Und es gibt das neue Yonville mit der Siedlung "La Petite Suisse Normande", bestehend aus den Lotissements du vallon de la Hanche, der Résidence Le Catélier und der Résidence du Tertre, in den 90er Jahren quasi über Nacht errichtet von der GHF ("Groupe Habitation Familiale"), einem der großen Developer Frankreichs. Die "Kleine Schweiz der Normandie" bezieht ihren Namen etwas mühevoll aus der Hügelkette westlich des Dorfs; mit diesem Label wirbt der Bauträger GHF unverdrossen im Immobilienteil der Zeitung "Paris-Normandie".

Die Nahtstelle von Alt- und Neu-Yonville markieren ein "carrefour market" in der Avenue Gustave Flaubert und die neue orthopädische Klinik der Versicherung AXIAL mit einer integrierten Rehaklinik, dem modernsten Centre Hospitalier de Rééducation in ganz Frankreich.

Die Personen

Emma Bovary ist die Tochter des reichen Bauern Théo Rouault, geboren 1983 auf dem Gut Bertaux südlich von Rouen. Zehnjährig kommt sie in das Internat der Ursulinen in Caen. Mit 18, der Vater wird nach einem Unfall ärztlich versorgt, lernt sie den 35jährigen verwitweten Charles Bovary, einen Arzt für Allgemeinmedizin, kennen. Bald nach der Heirat zieht das Paar nach Yonville, wo Bovary einer Gemeinschaftspraxis beitritt, zugleich ein Zusatzstudium in orthopädischer Chirurgie beginnt und nach dem Examen in die neue BonMouve-Klinik überwechselt. Die Bovarys kaufen sich ein Haus in der neuen Siedlung "La Petite Suisse Normande", die Ehe wird mit einer Tochter gesegnet, die Emma gegen Protest nicht Berthe, sondern Madeleine nennt. Für die Schwiegermutter allerdings ist das der Name einer ja aus der Bibel bekannten Sünderin.

Charles Bovary ist zunächst erfolgreich in seinem Job, doch dann muß sein Team eine simple Fußoperation wiederholen, die erneut mißglückt; die Schuld schiebt man dem doch recht unerfahrenen Charles zu, man wird ihn zunächst zu solchen chirurgischen Eingriffen nicht mehr einteilen und reduziert sein Gehalt. Doktor Bovary meldet sich überstürzt zu einem Auslandseinsatz der Ärzte ohne Grenzen zunächst nach Afrika, dann - bis heute - in Haiti.

Die sehr bezaubernde Emma Bovary übernimmt einen Job in der Klinikverwaltung und beeindruckt mit Charme, Schönheit, literarischer Bildung und nicht zuletzt mit ihrem Esprit den Chefarzt Professor Rodolphe. Sie begleitet eine Schar von Kollegen zunächst zum Golfturnier, dann gehört sie öfter zu den Gästen auf dem lokalen Golfplatz, dem Parcours Arnaud Massy. Ihr Chef ist Präsident des Clubs, bald lädt er sie auch zu Parties auf seinen Wohnsitz, das romantische Schloss Vaubyessard ein. Man sieht sie öfter auch in Begleitung Rodolphes bei großen Golfturnieren der Normandie. In Rouen wird das Paar auch engumschlungen im Opernhaus beobachtet. Wer ist "man"?

Die Nachbarn

Yonville heute ist siedlungshistorisch und gesellschaftlich gespalten. Es gibt einen Bevölkerungsteil der guten alten Familien, der Yonvillais, die traditionell spannungsreich als Nachbarn und Verwandte, in wirtschaftlichen Interessen, Kooperation und Konkurrenz, aber auch in Fehden vor Gericht miteinander verbunden sind. Dazu gehören

Alle genannten Geschäftsleute sind auch Multiplikatoren und strahlen mit ihren Meinungen in die gesamte Bevölkerung hinein.

Emma Bovary, die sich bei Facebook inzwischen auch Emmy Rouault oder Madeleine Bé. nennt, gehört nicht zu diesem Milieu, obwohl sie dort nicht unbekannt ist als Frau des Doktor Bovary und - nach dessen plötzlichem Aufbruch in die Welt - als Favoritin des Klinikchefs Professor Rodolphe. Emma hat ihre nun sechsjährige Tochter bei einer angeheirateten Cousine in Les Bertaux zur Pflege gegeben und bewohnt allein das Haus in der Siedlung "Suisse Romande" mit ihren vielen crème- und sonstwie pastellfarbigen Eigenheimen. Die GHF-Verkaufsdame hatte dem Doktor Bovary und seiner Frau ein günstiges "Freundschaftsdarlehen" für den F-6+-Vertrag angeboten, beide hatten unterschrieben. "F6 plus" ist das Kürzel für ein 6-Zimmer-Einfamilienhaus mit Wintergarten-Salon, das sie, so die blassblauen Lettern an der Hauswand, "American Dream" genannt haben.

Der weiße amerikanische Gartenzaun ging extra. Die Hypotheken laufen noch 20 Jahre, pro Monat sind das 1600 Euro. Charles überweist fast sein ganzes Gehalt aus Port-au-Prince, 800 Euro monatlich. Die anderen 800 muss Emma zusteuern; damit ist sie in Verzug. Die GHF-Bank will nicht länger stunden und drängt Emma zur Umschuldung.

Nach einem Straßenfest im ersten Jahr ergaben sich keine weiteren Nachbarschaftskontakte in der Schlafsiedlung. Die Qualität der Häuser ist niedrig und die Fluktuation der Bewohner ist hoch; in der kurzen Zeit sind schon drei direkte Nachbarn wieder weggezogen, ihre Anwesen wurden zwangsversteigert.

Seitdem Professor Rodolphe, der Womanizer, in der entflammten Emma jede Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft gelöscht hatte, wurde ihre finanzielle Lage richtig prekär. Kurze Affären mit einem Oberarzt und einem Autohändler brachten keine Perspektive. Emmas Stelle in der Klinik wird nächstes Jahr voraussichtlich einer Restrukturierung zum Opfer fallen.

Seit einiger Zeit ist sie als Amélie, Julie, Jenny oder Juliette bei der Agentur Escapade abonniert auf das ganze Programm (sortir, amitié, amour). Kontakte ergeben sich als "gelegentliche Treffs", wofür auch "American Dream" genutzt wird.

Seitdem Emma in dem neuen TGV nach Paris in schamlosester Situation beobachtet wurde und neulich, auf der Landwirtschaftsausstellung, die Geschichte darüber, wie sich Madame Bovary kompromittiere und überhaupt: ganz Yonville in Verruf bringe, von Mund zu Mund ging … seitdem ist auch die soziale und moralische Reputation von Emma das Lieblingsthema der miteinander verzahnten Klatschkartelle in Yonville. Sie war die Letzte, die davon erfuhr, In der Klinik hat man ihr davon erzählt.

Une petite fugue

Emma hat die Flucht nach vorn angetreten und sich bei der bekannten Fernsehsendung von FR3 "Vie privée, vie publique" beworben. Diese wird von Mireille Dumas moderiert und montags ausgestrahlt. Gerade hatten sie zum x-tenmal DSK.

Demnächst geht es - nicht zum ersten Mal - um das Thema "La femme infidèle" und "La maîtresse". Emma wird dann als Emmy Rouault vorgestellt werden. Ihr liegt letzlich daran, auf diesem Weg "als untreue Ehefrau und enttäuschte Geliebte nunmehr doch einen wahrhaft aufrichtigen, gutsitierten, sportlichen, akademisch gebildeten, an Literatur und Film interessierten Herrn +/- der 50, Nichtraucher, möglichst Raum Normandie" als Freund kennenzulernen, wie es in ihrem vertraulichen Bewerbungsbogen an den Sender steht.

Ganz Yonville l'Abbaye wird am übernächsten Montag am Fernseher sitzen.


© Heinz Schilling 2011. Fast alles in diesem Text ist fiktiv.



> siehe auch "Die großen Gefühle der kleinen Bürger" [pdf]

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