Dr. Heinz Schilling • Professor für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main

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Stadt ohne Eigenschaften
Frankfurt. Einsichten von außen

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Während Frankfurt — als Dauerprogramm der Moderne, als Kapitale von Macht, Geld und Wechsel — Signale nach außen sendet, die als Zumutung zur Anpassung empfunden werden, kann es nicht verwundern, dass die Menschen extra muros eigensinnig reagieren: Jeder neue Zacken in der Skyline lädt Kleinstädte und Dörfer rundum ein, Frankfurt zu bewundern und droht zugleich an, die uralte Beherrschung der Stadt gegenüber dem Land fortzusetzen. Doch die Menschen aus dem Umland wollen, obwohl mental vieles vorbereitet ist, nicht zum Symbol Frankfurt dazu gehören. Sie wollen, technisch natürlich up to date, ihre nicht irritierende kleinstädtische Urbanität haben, homogene Nachbarschaften, Übersicht, Ordnung, Sicherheit — aber offenbar auch ein bisschen Tyrannei der Intimität.

Und wenn man Frankfurt eingemeindet würde? Um Himmelswillen, da zögen ja Frankfurter Verhältnisse hier ein, notieren die Interviewer in den 30 Untersuchungsorten* rund um Frankfurt. Da kämen ja unsere Berge hier weg, fürchten Grundschüler in Eppstein. Während die "Frankfurter Verhältnisse" traditionelles Synonym für Anonymität, Arroganz, Unmoral und Schmutz sind, deutet die Reaktion der Kinder auf etwas anderes hin: Frankfurt bringt den heilen Umlandkosmos durcheinander.

Kann man dieser Teflonpersönlichkeit Frankfurt trauen? Eine Regionaldiskussion, die einen Bogen um das Thema Frankfurt macht, ist unehrlich. Die Stadt wird haftbar gemacht für den "Fortschritt" als Prinzip der Moderne, das sie drastisch vorführt. Pendler sind froh, ihr abends den Rücken zu kehren und zu Hause wieder einzutauchen in die Vorstellung eigener Kontinuität und Zuständigkeit. Immer öfter flammt nun dort das lokale Gespräch auf: Was soll denn bei dieser ganzen Rhein-Main-Debatte herauskommen? Im Umland wird eine Regionalreform — welcher Art auch immer — stets via Frankfurt gedacht. Akute Abwehr evozieren Meldungen der Art, Frankfurt wolle Eschborn, Neu Isenburg, Bad Vilbel, Bad Homburg schlucken, die wirtschaftlich reüssieren, indem sie ebenfalls die Zentralität auswerten. Wird der Rest der Region als Peripherie dann uninteressant?

So, wie Frankfurt für jeden noch so unwahrscheinlichen Krimi-Plot gut ist, so gut ist die Stadt für Mutmaßungen eine prima Adresse, um Ängste und Verdächtigungen abzuladen. Diese gemischten Gefühle gegenüber Frankfurt von außen sind in der Rhein-Main-Region anzutreffen:

"Frankfurt spielt immer noch Freie Reichsstadt. Es hat sein Umland immer beherrscht und es will nur abzapfen und einverleiben. Nach uns Menschen fragen die nicht."

"Frankfurt will mit all den Wolkenkratzern als noch höher hinaus. Und so denken die ja auch, von oben herab."

"Frankfurt ist unübersichtlich, verworren, zu heterogen. Ich will Übersicht und Heimeligkeit statt ständiger Irritation."

"Frankfurt ist ständig etwas anderes. Ich will Konstanz, Verläßlichkeit. Ich möchte einem Ort trauen können. Das habe ich hier, wo ich wohne."

"Wenn das hier schon alles eins werden soll, wollen wir mitbestimmen, was die Region sein soll und nicht nur Baulandreserve für Frankfurt. Dann wird Frankfurt abgeben müssen."

"Frankfurt ist ja gar nicht mehr von hier. Seine Entscheidungen fallen in Toronto und London. Wir wollen hier aber bestimmen, was wir sind."

Frankfurt am Main sieht sich immer nur von innen. Die Stadt nimmt nicht wahr, was außerhalb ihrer Mauern über sie gedacht wird. Welche Gefühle sie weckt, wie und warum sie Gegenstand von Liebe und Hass ist. Frankfurt: Eine Stadt, die in ihrer Wucht mehr imponiert als verführt, die man eher respektiert, als ihr sein Herz zu schenken? Dieses Buch, Ergebnis eines kulturanthropologischen Feldforschungsprojekts, ist keine übliche Imagestudie. Thema sind lebensgeschichtlich fundierte emotionale Bezogenheiten von Menschen außerhalb Frankfurts auf die Stadt sowie die Konfrontation mit dem, was Frankfurt ausstrahlt. Menschen von nah und fern sprechen über Frankfurt und sie sprechen sich über Frankfurt aus.

Und wie kommt Musil in den Titel? In dem Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" (1930) wird der Protagonist Ulrich als ein Mensch mit zu vielen Eigenschaften geschildert, der lächelnd zur Erkenntnis gelangt, "dass er mit alledem ja doch ein Charakter sei, auch ohne einen zu haben" — ein Charakter vergleichbar dem Schauplatz Wien mit seiner Überfülle des Möglichen wie in einer "kochenden Blase".

Aus dem Inhalt:

* 30 Orte im Rhein-Main-Gebiet, um nach Frankfurt zu fragen: Aschaffenburg, Bad Homburg, Bad Vilbel, Darmstadt, Dreieich, Dietzenbach, Eppstein, Eschborn, Flörsheim, Frankfurt, Friedberg, Gelnhausen, Groß-Gerau, Groß-Umstadt, Hattersheim, Hofheim, Idstein, Jügesheim, Königstein, Michelbach, Michelstadt, Neu Isenburg, Oberursel, Offenbach, Ortenberg, Rodgau, Schöneck, Trebur, Wächtersbach, Wiesbaden

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