"Der Seiltänzer", Bronzefigur von Hellmuth Heinze (2000)
Kultur als Beruf
Erfahrungen kulturanthropologischer Praxis
Die Situation von Kulturanthropologen nach dem Examen ähnelt heute öfter einem Drahtseilakt als dem Bewegen auf festem Grund. Hochgespannte Erwartungen und eine immer dünner werdende Luft scheinen symptomatisch. Auf dem Boden der Tatsachen sich zu bewegen haben viele Absolventen des Fachs gelernt. Sie durchliefen keine eine Ausbildung zum Luftkutscher, um ein selbstironisches Bild des Poeten Ludwig Harig abzuwandeln, dessen professionelle Materie aus Phantasie und Sprache besteht. Ihr Boden war derjenige der Feldforschung.
Doch das Danach, das ins ganz ganz wirkliche Leben nun aber endlich Hinaustreten, wird für viele erst einmal zu einer Feldforschung der anderen Art. Es heißt: Hier bin ich! Es ist die Phase der Selbstentwürfe; von fein austarierten Bewerbungsschreiben, Eigenanpreisungen, Warten; des langen Atems und immer wieder Versuchens. Über dem Marktplatz der raren Jobs jonglieren viele Absolventen aus den Kultur- und Sozialwissenschaften. Welche Chancen haben examinierte Kulturanthropologen?
Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie in Frankfurt war seit ihrer Gründung durch Ina-Maria Greverus im Jahr 1974 als ein anwendungsorientiertes Fach ausgewiesen. Der Praxisbezug war ein doppelter, richtete sich zum einen auf die gesellschaftliche Wirklichkeit, zum anderen auf die späteren beruflichen Möglichkeiten der Studierenden.
Mit dem einen war die institutionelle Relevanz einer wissenschaftlichen Disziplin für Bereiche wie Umweltgestaltung, Politik und Planung, Bildung, Medien, Wissenschaft und Kulturvermittlung (Kultur in einem erweiterten Sinn) angesprochen, ein Kennzeichen des Frankfurter Instituts. Dies erstreckt sich von frühen Modellprojekten der Regional- und Stadtplanung über Konzepte kommunaler Kulturpolitik bis hin zu Forschungen zur Migrationsdynamik als Teil des europäischen Integrationsprozesses. Hierüber informiert: Heinz Schilling, Fieldwork. Kulturanthropologische Recherchen in Europa. 1994.
Mit dem anderen waren die Berufsperspektiven von Absolventen der Kulturanthropologie gemeint und — als spezieller akademischer Erfahrungsraum — das Frankfurter Modell des "Forschenden Lernens". Dessen Kernstück: ein mehrsemestriges Feldforschungsprojekt.
Projekt heißt empirisches, erfahrungswissenschaftliches Arbeiten auf dem Boden von Tatsachen; als "Tatsachen" werden auch Bedeutungswelten von Menschen angesehen, das, was für sie "Sinn" macht. Projekt heißt, dass auf thematisch relevanten Forschungsfeldern kompakt ethnografische Feldforschung betrieben wird, Recherchen vor Ort durchgeführt werden mit Teilnehmender Beobachtung und intensiven Interviews. Projekt ist Arbeit im Team vor dem Abtauchen in die Einsamkeit des eigenen, des abschließenden Examensprojekts. Ein Projekt ist ein intensiver wie nachhaltiger Erfahrungsprozeß. Und nicht selten eine Reise an den Rand des Willens.
Unabhängig vom Thema eines Projekts stellt die Projektarbeit für die Studierenden eine Kompetenzgewinnungsstrategie dar: Sie entwickeln die Fähigkeit, eine Fragestellung einzukreisen und zunächst echte von unechten Problemen zu trennen; sodann: Hypothesen, sinnvolle theoretische Vorannahmen, zu formulieren; ein Forschungsdesign zu entwerfen; Recherchen zu planen, sie vor Ort eigenständig zu realisieren und — keineswegs selten — erst im Feld auf die Frage (!) zu stoßen, nach der man bisher suchte. Sodann die im Feld gewonnenen Erfahrungen und Informationen zu sichten, zu analysieren und zu bewerten; die Ergebnisse und Erkenntnisse zu beschreiben und sie schließlich medial zu dokumentieren. Es geht also um die Entwicklung von Entscheidungskompetenz, Planungs- und Organisationskompetenz, Kommunikationskompetenz, Analyse- und Bewertungskompetenz, Darstellungs- und Diskurskompetenz.
Diese Kompetenzen können ein Vermögen darstellen. Sie im Verlauf eines kulturanthropologischen Studiums entwickelt zu haben bedeutet in vielen Fällen mehr, als das Mitbringen der so gern zitierten soft skills auf einen restriktiv bis feindlich anmutenden Arbeitsmarkt, wo aus der Vorstellung von Karriere im Sinne einer geradlinig planbaren Aufstiegs-Laufbahn fragile Entwürfe — gerade für "fertige" Geistes— und Kulturwissenschaftler — geworden sind, die Mut und Wagemut herausfordern, Findigkeit, freundliche Beharrlichkeit. Sowie ein starkes Selbstvertrauen.
Und Teil dieses Selbstvertrauens kann in der Tat das Gefühl einer Ich-Souveränität sein, welches ein praxisorientiertes Studium vermitteln kann.
Akademische Ausbildungsstätten veröffentlichen heute zunehmend sog. Verbleibstudien mit Bilanzen darüber, was aus ihren Absolventen wurde und stellen sich selbst gern als Karriereschulen dar. In zwei Publikationen des Frankfurter kulturanthropologischen Instituts ("Kultur als Beruf" 1991; 2004) beschreiben einstige Studierende sich selbst und was sie mit ihrem Studium angefangen haben. Es sind Antworten auf die Frage, die alle Welt an ein neues Fach stellt: Und was fängt man damit an? Es sind persönliche Auskünfte darüber, was man selbst aus Studium und Examen gemacht hat, wie man die Substanz der Semester fruchtbar gemacht hat, die keine Studienordnung verfassen kann: Veränderung des Denkens und Sensibilisierung für andere Wirklichkeiten.
Beides mal ist "Kultur als Beruf" ausdrücklich kein Karriereratgeber; Anliegen insbesondere der Edition 2004 ist es, zu einer realistischen Einschätzung von Berufsperspektiven, Jobaussichten, Verwirklichungsentwürfen, dem Sinn des Zweifelns und dem Sinn von Seitenbewegungen (Sennett) beizutragen.
In den meisten Texten spielt das Fortwirken von Feldforschungserfahrungen Arbeit (auch im Team) nach dem Studium eine bedeutsame Rolle.
Wissenschaft ist ein prinzipiell unabgeschlossener Prozess. Und reicht ins eigene Leben. In einem gewissen Sinn mag dies für die kulturanthropologische Arbeit überhaupt gelten. Am Ende einer Arbeit die Ausgangsfrage vielleicht nicht vollständig zu beantworten, sie nun aber tiefergehend stellen zu können, das klingt in unserer Zeit grell verpackter Verpackungen allzu bescheiden. Hingegen erwarten politisch Verantwortliche in aller Regel von Wissenschaftlern finale Lösungen, ohne das Problem wahrnehmen zu wollen und fordern Antworten, bevor die Frage gestellt wurde.
Fragen nicht ausweichen, schnellen Lösungen misstrauen, Vertrautes vom Gegensatz aus reflektieren, Zweifel systematisieren und eine nicht bestätigte Hypothese als Gewinn aushalten. Das Fragen als Haltung tragen nicht wenige Absolventen in die außeruniversitäre Welt, in berufliches Tun, in den privaten Alltag, ohne dies mit einer Identitätsposaune ("Ich als Kulturanthropologe...") zu begleiten.
Einundzwanzig Autorinnen und Autoren führen in "Kultur als Beruf" von 2004 einen imaginären Dialog, den der Leser im Kopf zu einer tatsächlichen Diskussion zusammenfügen kann. Die Autoren gehören institutsgeschichtlich zur zweiten bis fünften Examiniertengeneration. Selbst die Arriviertesten repräsentieren alles andere denn glatte Karrieren als Kulturanthropologen von einem Punkt Null weg, dem Tag nach der Prüfung. Doch alle beschreiben ihr Leben als Erfahrungsweg mit Rissen und Schrunden der Zeit — suchen, anfangen, abbrechen, wieder anfangen, etwas gefunden haben, sein Ding gefunden haben, müde werden, aufbrechen. Und mit Glücksphasen, Schicksalsschlägen, Bedrängnissen, Momenten der Anerkennung und Bestätigung.
Das, was Max Weber in seinem berühmten Vortrag von 1919 als Kennzeichen von "Politik als Beruf" skizzierte, könnte in ähnlicher Weise für das Thema Kultur als Beruf gelten — "ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß", was eine "Festigkeit des Herzens" erfordere oder hervorbringe.
Kultur als Beruf. Edition 2004. Es schreiben…
Horst Jürgen Krämer über das allerneueste Goethe-Institut • Peter Klös über Themen, die ihn finden • Petra Ammann über die Binnendynamik einer Versicherungsgesellschaft • Julia Schaaf über eine Traumstelle im deutschen Journalismus • Nadja Buoyardane über ein Drehbuch für Omar Sharif • Andrea Gerdau über Lohndumping in der Medienbranche • Frank Seibel über Grenzzeitung und Zeitungsgrenze • Renate Holzapfel über Kulturanthro-Politik • Elisabeth Mohn über Visuelle Anthropologie • Andrea Hopp über die anthropologische Perspektive einer Historikerin • Elke-Nicole Kappus über erstaunliche Parallelen von Forschung und Leben • Christoph Zens-Petzinger über den Wandel städtischer Kulturarbeit • Susanne Schardt über Drogen • Ricarda Scherzer über 16 Ich-AGs • Mathilde Schulte-Haller über kulturanthropologische Konzepte in der Zürcher Sozialpolitik • Ursula Stiehler über das, was im Museum bleibt — und sich ändert • Birgitt Rambalski-Monsees über Werder Bremen • Thomas Michel über Entwicklungshilfe, Kulturkontakt und die Ambivalenz des Verstehens.
Kultur als Beruf Edition 2004 ist im Buchhandel erhältlich. Die Ausgabe von 1991 ist seit langem vergriffen.