Welche Farbe hat die Zeit?
Recherchen zu einer Anthropologie des Wartens
Herausgegeben von Heinz Schilling 2002
Was rät der alte Kendo-Lehrer uns, den immer Eiligen? Fujimura-san hat den höchsten Rang eines Schwertmeisters inne, auch junge Europäer, so fit und reaktionsfähig wie diebesten Japaner, kommen zu ihm nach Kyoto und lassen sich unterweisen. Nur: Wenn es darauf ankomme, den richtigen Zeitpunkt für den entscheidenden Schlag zu finden, seien sie zu voreilig.
Für Fujimura-san ist das Warten auf den richtigen Zeitpunkt höchste Anspannung. Wer gut abwartet, dem genügt es, den entscheidenden Schlag nur noch symbolisch auszuführen. Und das, rät der Kendo-Meister, bringt größere Genugtuung, als einen letzten vernichtenden Schlag zu tun.
Für Fujimura-san ist sein innehaltendes Warten — matsu — aktives Handeln. Ein Beispiel in dieser Studie für den Umgang mit Zeit in einer nicht-westlichen Kultur.
"Welche Farbe hat die Zeit?" lautet der zauberische Titel des Buchs, das sich dem im Moment viel diskutierten Thema Zeit von zwei unkonventionellen Positionen aus nähert. Zum einen setzen die Recherchen bei einem Ausnahmefall der Zeit an, dort, wo das lineare Kontinuum unterbrochen, gestört, gehemmt wird — ein idealer Anlass für die Forschung. Zum anderen stehen konkrete Wahrnehmung, Handhabung und Bedeutung von Zeit, also die "Zeitkultur" im Vordergrund, nicht so sehr Konzepte einer abstrakten Zeittheorie.
Zwei Jahre haben die 14 Teilnehmer eines kulturanthropologischen Studienprojekts an ihrem Thema gearbeitet, dessen Erkenntnisdimension sich erst im Laufe der Zeit herauskristallisierte: Warten — ein Alltagsphänomen, das so selbstverständlich scheint, dass man darüber kein Wort verlieren müsste. Hat die Welt auf ein Buch zu einem Non-Thema gewartet? Offenbar, denn es stößt auf ein erstaunliches Leserinteresse, wie auch die Vorstellung auf der Frankfurter Buchmesse 2002 bewies.
Warten erscheint als eine Färbung der Zeit. Untersucht werden Spielarten und Typen des Wartens, die sich einmal gemäß der Dauer, zum anderen hinsichtlich der Lebensrelevanz unterscheiden lassen. Im Feintuning spielen allerdings Warteobjekt und Warteziel, Wartemotivation und situative Gestimmtheit, die biografisch verankerten Warte-Erfahrungen sowie das Eingebundensein in die polychronische Zeitkultur des Abendlands mit all ihren Ungleichzeitigkeiten und Simultaneitäten eine Rolle.
Einige Fallstudien widmen sich dem alltäglichen Warten an Orten, die nichts anderem als dem Warten dienen, wie etwa die Schalensitzwelten in Bahnhöfen und Airports oder Feuer— und Polizeiwachen. Ausführliche Recherchen gelten der Erwartung der Geburt oder Adoption eines Kindes und dramatischen Wartephasen von Menschen, die auf eine Spenderleber hoffen. Weitere Themen, denen sich die jungen Forscher unter Anwendung ethnologischer Methoden zuwenden, sind das Warten auf einen neuen Job sowie das fremdbestimmte, existenzentscheidende Warten müssen von Flüchtlingen im deutschen Asylverfahren. Das raffinierte Zeitspiel mit dem Warten, an welchem wir alle dank der Werbung teilnehmen dürfen, ist Gegenstand einer materialreichen Einzelstudie, ebenso das scheinbar passive Warten des Anglers auf den Fisch oder das Ausharren in einem zu kleinen Bus auf einer Reise durch die Anden. Untersucht wurde auch das lange Warten, praktiziert in der Weltgeschichte, interpretiert in der jüdischen Kultur und in den Romanen eines Gabriel Garcia Márquez.
Eine Passantenbefragung an Frankfurts Hauptwache erbringt höchst unterschiedliche Einstellungen zum Warten. Ein überraschendes Ergebnis: Frauen warten anders — vielleicht sogar "besser" — als die in Wartesituationen ungeduldig gelangweilten Männer. Aber warten auch alle Menschen in verschiedenen Kulturen gleich? Diese Frage beantworten schließlich "Korrespondenten" aus Tokyo, Amsterdam, Sydney, Stockholm, Atlanta, Lyon, Madrid, Los Angeles, Nicosia und Monte Gordo in Portugal.
"Das Buch besticht durch seinen Facettenreichtum und aktiviert unmittelbar das eigene Erfahrungsreservoir des Lesers. Fünf Aspekte begleiten ihn bei der Lektüre: Warten ist eine Frage der Kultur, Warten ist eine Schwelle, Warten ist Aufschub. Warten spielt sich im Kopf ab. Warten ist eine Form sozialen Handelns." (Forschung Frankfurt 1/2003)