Dr. Heinz Schilling • Professor für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main

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Nebenan und gegenüber
Nachbarn und Nachbarschaften heute

Nachbarschaft befindet sich in einem massiven Funktions- und Bedeutungswandel. Immer weniger Menschen "beteiligen" sich an Nachbarschaft; allenfalls nippen sie bei einem netten Straßenfest daran. Sie wollen vielleicht noch Nachbarn haben, aber kaum noch Nachbarn sein. Die Folge: Nachbarschaft — Sphäre zwischen Öffentlichkeit und Privatheit — gibt mehr und mehr den öffentlichen Anteil auf und privatisiert sich bis zur Retribalisierung. Das heißt gleichzeitig: Nachbarschaft verliert ihren Zwangs- und Pflichtcharakter und wird zunehmend wählbar.

Die Kultur der Nachbarschaft spiegelt wie kaum ein anderes soziales Phänomen den Selbstverwirklichungsanspruch des Menschen in einer individualisierten Gesellschaft wider. Das soziale Beziehungssystem Nachbarschaft beruht zwar noch immer auf dem Raum, den Menschen als "gemeinsam" erachten. Doch jene Sphäre, die man miteinander "teilt", hat ihren Charakter verändert: Die gemeinsame Grenze, einst trennendes wie bindendes Merkmal von Nachbarschaft, verlor ihre ambivalente Bedeutung, wenn sie nur eigensinnig definiert wird.

Heute werden Grenzen anders gezogen: eigenwillig und losgelöst vom Raum. Und sie werden deutlicher gezeigt: individueller, privater, egoistischer. In das Prinzip der Nähe wird immer mehr Distanz eingebaut.

Längst hat das Nebeneinander-Wohnen das Miteinander-Leben abgelöst. Nachbarschaft wurde tendenziell zu einem formalen Benachbartsein, wie auf Knopfdruck aktivierbar: Der "ideale" Nachbar hat dann da zu sein, wenn ich ihn benötige. Ansonsten soll er mich in Ruhe lassen.

Das alte Nachbarschaftsideal des Dorfs hingegen ist ein von Städtern verklärtes Bild. Bei der tradierten dörflichen Gemeinschaft handelte es sich meist um ein unentrinnbares System aus wortloser Hilfe und gnadenloser Kontrolle und — ganz nach dem Prinzip der Gabe, wie Marcel Mauss es einst beschrieb — der Praxis, Leistung und Gegenleistung stets genau auszutarieren. Daraus erwuchs die Vorstellung von einem heimelig anmutenden Immer-Füreinander-Da-Sein. Sie erwuchs in den Köpfen von Städtern, die nach einer Übersiedelung aufs Land irgendwann dann doch ahnen, dass sie an Dorf und Kleinstadt vorbei aufs Land gezogen sind, indem sie keineswegs in die wirkliche örtliche Sozialkultur eintreten.

Die Feldforschungen zum Thema Nachbarschaft führte zu dem exemplarisch gut belegten Befund, wonach der vorwiegend interessengeleitete städtische Nachbarschaftstypus mit seinen optionalen anstatt obligatorischen sozialen Relationen längst auch aufs Land gewandert ist.

In dem Projektbericht "Nebenan und gegenüber" über Nachbarn und Nachbarschaften heute wird eine ganze Bandbreite von Nachbarschaft in unserer heutigen komplexen Gesellschaft dokumentiert. Die Feldforscher trafen auf Menschen, die in Nachbarschaft immer noch regelrecht aufgehen und auf Menschen, die Angst vor der Nähe haben. Auf Zeitgenossen, die "denen von nebenan" die Nachbarschaft verweigern und auf solche, die sich Nachbarn per Internet suchen. Auf Nachbarstädte, die sich gegenseitig kränken oder kränken lassen (wie in der schicksalhaft-augenzwinkernd gepflegten Bezogenheit von Frankfurt und Offenbach). Auf Nachbarn im Hochhaus und im Einfamilienbungalow, in Stadt und Dorf, auf Nachbarn in der TV-Serie "Lindenstraße" und auf — aufschlussreiche, recht anthropomorph anmutende — Benachbarungen von Hausfassaden. Zur Frage "Kann man Nachbarschaft planen?" äußern sich acht eigens befragte Planer und Architekten, darunter Frei Otto, Oswald M. Ungers und Till Behrens.

"Wir danken allen Nachbarn und deren Nachbarn", so bedanken sich die Autoren des Bandes bei den ungezählten Interviewpartnern im Forschungsfeld, und sind überzeugt: "Ein Buch, das in jeden Haushalt gehört!"
Die Autoren sind: Eva Schneider und Michael Lavalle; Elke Wehrs; Andrea Oltmann und Andrea Holzfuß; Diana Stein, Susanne Bisgaard; Peter Klös; Manu Kembter und Mirja Morgenstern, Lilian Bliesener-Wesselsky; Marianne Burbaum, Nina Gollnick; Anrea Mantecón-Ammann; Stefanie Feit und Anke Wipfler; Frank Kaminski; Heinz Schilling.

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