Dr. Heinz Schilling • Professor für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main

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Leben an der Grenze
Recherchen in der Region Saarland/Lorraine

In seinem Film "Grenzfall Leidingen" spricht Alfred Gulden, ein wahrer Poet mit der Kamera, mit einer alten Frau, die ihr Leben lang an der Leidinger Dorfstraße wohnt. Die staatliche Grenze zwischen Frankreich und Deutschland verläuft genau auf der Straßenmitte. Die Frau sagt: "Ich bin kein großer Patriot. Dafür haben mein Vaterland und mein Mutterland gesorgt" — die Mutter war deutsch, der Vater Franzose; sie ist nie umgezogen, hat aber mehrmals — infolge politischer Grenzverschiebungen — die Nationalität gewechselt, sie war mal deutsch, war mal französisch. Und nun, man schreibt das Jahr 1982, wird sie gefragt: "Frau Theobald, was würde sich ändern, wenn ‚Europa’ käme und die Grenze da weg wäre?" Frau Theobald denkt kurz nach und sagt, mehr in sich hinein als in die Kamera: "Wo kämen wir dann da hin?"

Ein starker, anrührender Moment in diesem preisgekrönten Film. Zugleich ein Augenblick der Erkenntnis: was Grenze ist und was Heimat bleibt.

1984 bin ich mit 17 Studierenden in der Region Saarland/Lorraine — auch in Leidingen, das auf dem eigenständigen Ortsschild der République Française so heißt: Leiding, Annexe de Heining-les-Bouzonville. Das Ende der Länder, zuweilen von Welten, ist hier tatsächlich mitten im Dorf. Wir sind nicht auf den Spuren des Films, sondern versuchen etwas von einem Lebensgefühl zu ertasten, das überwölbt ist von je anderen territorialen Bezogenheiten und staatlichen Logiken. So etwa heißt die Leidinger Dorfstraße auf Deutsch "Neutrale Straße", auf Französisch "Rue de la Frontière". Überwölbt letztlich auch von dem aus den jeweiligen Metropolen heraus gedachten Wort Provinz, Distanz markierend und Distanzierung bis zur Deklassierung ausdrückend.

Wir recherchieren in einer Gegend, wo Frankreich "verschwindet" (Germaine de Staël 1803), und wo man sich "hinterm Wald" (aktuelle Feldforschungsinterviews) fühlt, und von der Bundesrepublik Deutschland habituell immer noch als "vom Reich draußen" spricht.

Wir stoßen auf sich überlagernde, sich potenzierende wie auch sich egalisierende Grenzvorstellungen oder aus den kollektiven Identitäten in personale Identitäten rückwirkende Abgrenzungspraktiken. Wir interviewen Passanten auf der Straße, Heimatforscher, im urban-intellektuellen Milieu des Grenzsaums, Ausstellungsbesucher, Kulturpolitiker und andere professionelle Sinnstifter, Zöllner, Lehrer, Polizisten, arbeitslose Stahlarbeiter und Bergleute, Dichter (u.a. Ludwig Harig). Das Suchen, Beobachten, Medienauswerten, Reflektieren passiert möglichst immer auf zwei Seiten, dies- und jenseits der Grenze.

Diese Grenze gilt als "eigentlich nicht mehr existierende" und von Politikern (deutsch) als "im Prinzip erledigt" gefühlte Barriere. Wobei die nationale Grenze immer noch als "härter" gilt, die regionale und lokale Grenze vergleichsweise als "weich".

Die Vorstellung von einer "Grenze im Kopf", geäußert von den bedachtsameren unserer Gesprächspartnern, machte dann fünf Jahre später in anderem Kontext Karriere, nachdem die hermetische Grenze mitten in Europa — das Symbol heißt: Fall der Mauer — schlagartig beseitigt wird.

An der dritten Seite der Grenze standen die Feldforscher in der Region Saarland/Lorraine im Jahr 1984 mit der Frage: Was macht die Grenze hier anders? Als eine dritte Seite offenbarte sich die Reflektion, getragen von einer "solidarischen Sympathie" mit den Beforschten, so das Vorwort.

Schwerpunkte des Projekts



Als dieser umfangreiche Forschungsbericht 1986 erschien war er innerhalb kürzester Zeit vergriffen.

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