In meiner Habilitationsschrift habe ich ein Kapitel den Menschenbildern in der "klassischen" Urbanitätsdiskussion gewidmet und bin dabei einer Diskurslinie gefolgt, wie sie durch die Namen Simmel, Wirth, Mumford, Bahrdt, Mitscherlich, Lefebvre und Sennett beschrieben wird. Dabei handelt es sich um einen soziologischen Diskurs auch dann, wenn sich Philosophen, Architekturhistoriker und Psychoanalytiker unter den Theoretikern befinden. Was mich an diesem Referenzial immer noch interessiert, ist die Frage nach dem Kultur schaffenden, sich Kultur aneignenden und sie verändernden Menschen unter stadtspezifischen Lebensbedingungen, sowie nach den kulturellen Mustern, welche unter der Bedingung "Stadt" für die gesamte Gesellschaft entstehen. Warum also nicht bestimmte Problemstellungen an Theoretiker seit Georg Simmel herantragen und einige ihrer grundlegenden Texte gewissermaßen anthropologisch interviewen?
Die Beschäftigung mit den genannten Autoren erbringt vier paradigmatische "Bilder" , wie sie im Verlauf des 20. Jahrhunderts erdacht, empirisch erforscht und reflektiert wurden.
Es beginnt mit dem "befreiten" Menschen zwischen Ichdissoziation und Handlungsautonomie. Was der Sozialphilosoph Georg Simmel, Berlin vor Augen, als Charakteristik des Städters beschrieb, fand in Chicago, Welthauptstadt der Migration, mit den Studien Louis Wirths eine differenzierte Fortsetzung. In Simmelscher Tradition analysierte er die Segmentpersönlichkeit als den modernen Menschen fernab traditioneller Bindungen.
Aus anthropologischer Perspektive ist der "öffentliche" Mensch die nächste typisierte Figur. Zunächst sehen wir mit Hans Paul Bahrdts das Ideal des unvollständig integrierten Menschen im Spannungsfeld zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Es schließt sich, nicht ganz überraschend, Richard Sennetts voluminöse These vom Ende des Urbanen an. Jene im Diskurs der Zivilgesellschaft seitdem immer wieder zitierte Tyrannei der Intimität ist Sennetts plakative Formel für die von ihm ätzend beklagte Herrschaft der Kleinbürger.
Ideengeschichtlich nahe, wenn auch in einem anderen Argumentationskontext steht sodann der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, der die schwierigen menschlichen Affektbeziehungen zum bebauten Gegenüber, die Anpassungsprozesse zwischen Stadt und Städter und den "an seiner Stadt krankenden" Menschen betrauert.
Vor dem "konformen" Menschen schließlich, der statt in seiner spezifischen Stadt in einer globalen Vorstadt lebt warnt Lewis Mumford. Und quasi korrespondierend dazu entwickelt Henri Lefebvre den "im Konsumismus gefangenen" Menschen, freilich nicht ohne als Partisan des Möglichen, wie er sich selbst nennt, eine hoffnungsvolle Utopie von der Stadt als Gegenort der in ihrer Kleinbürgerlichkeit gefangenen Zeitgenossen in die Welt zu entlassen.
Titel meiner Habilitationsschrift: Neue Dörflichkeit. Urbanisierung ohne Urbanität im Rhein-Main-Gebiet. Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt 1992.
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