Dr. Heinz Schilling • Professor für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main

|Interviews|



Wo wirklich Politik gemacht wird —
Notizen aus der Provinz

Nie waren sie so still wie heute. Die Landesfürsten schweigen, die Berliner Politiker regieren durch. Seit Roland Koch, Jürgen Rüttgers und Christian Wulff sich in die Bundespolitik nicht mehr einmischen, kann Angela Merkel ihres Amtes nahezu ohne innere Anfeindungen walten. Viele Ministerpräsidenten ziehen Provinzpolitik dem Berliner Parkett vor, auch die Sozialdemokraten. Die Stellvertreter von Sigmar Gabriel sind allesamt Landespolitiker ohne Bundesaktivitäten. Eigentlich klar: In Berlin ist das Klima härter, die Ellenbogen spitzer und man hat ja schon an Kurt Beck und Matthias Platzeck gesehen, wie bundespolitische Pirouetten von Landespolitikern enden können: schmerzhaft. Die Provinz ist attraktiver denn je. Wen wundert's, ist ja auch viel schöner auf dem Land als in Berlin, sagt "Der Tag" [HR-Text].

Gesprächspartner:
Ulrich Sonnenschein, HR-Redakteur
Nico Fried, Süddeutsche Zeitung, Redaktion Berlin
Norbert Mecklenburg, Germanist, Universität Köln
Herfried Münkler, Politologe, HU Berlin
HS
Moderation: Uwe Westphal
HR2, 24.8.2011, 18:05 — 19:00 Uhr
[ … ]

Uwe Westphal: Und jetzt begrüße ich hier im Studio Professor Heinz Schilling, Sie sind Kulturanthropologe. Guten Abend erst mal.
Guten Abend Herr Westphal.

Herr Schilling, bei aller Sehnsucht nach Kleinteiligkeit, Überschaubarkeit, stellen wir aber auch fest, daß zum Beispiel in 50-Seelen-Dörfern, in denen gewiss auch einige unserer Hörerinnen und Hörer wohnen, dass man dann dort trotzdem schon wieder Teil einer Globalisierung ist. Man muß nur den Stecker zum Internet einstöpseln, man braucht einen PC, und schon ist man verbunden mit der Welt. Ist das das neue Verhalten auch von Provinz, daß man jetzt gar nicht mehr zwangsläufig mit Trachtenjäckchen herumlaufen muß, sondern man macht das einfach, man stöpselt sich ein, und schon ist man im web-2.0-Paradies?
Ich denke, die Provinz ist nicht mehr ganz so "provinziell", wie wir das die ganze Zeit angenommen haben — oder spießig oder miefig —, es gibt vielleicht ne neue Miefigkeit, ne neue Spießigkeit. Da könnte man noch drüber reden. Aber: Vorhin war in der Sendung von "Offenen Fenstern" die Rede. Ich denke: die Medien insgesamt — speziell vielleicht das Internet, aber das ist noch n bißchen ungeklärt — und der Tourismus sind Fenster in andere Welten. Was der Kollege in Köln [Norbert Mecklenburg] gesagt hat über diesen literarischen Regionalismus, das fand ich ganz interessant: "Die Heimat der anderen kennenlernen". Ja, es gibt Möglichkeiten, da den Horizont tatsächlich zu erweitern. Trotzdem, um nochmal zurückzukommen auf Münkler: Die Klein- und Mittelstädte — also, es sind jetzt nicht mehr die Einzelmenschen, sondern die Klein- und Mittelstädte — bestimmen, was Urbanität ist in Deutschland. Das stimmt! Und es gibt — hab ich verschiedentlich bei meinen eigenen Forschungen hier in Hessen, im provinziellen Hessen gehört — es gibt sowas wie eine kleinstädtische Urbanität. Man will die Sache im Griff behalten, die Stadtentwicklung, man will dieses urbane Chaos, zu dem ja Freiheit, Heterogenität und Öffentlichkeit gehören (das ist ein intellektuelles Konzept) aber nicht unbedingt in Büdingen. Man will das steuern können, will die Übersicht behalten. Und da wäre ich an einem anderen Begriff, bei [dem eingangs der Sendung zu hörenden Loriot-Sketch mit Doktor Klöbner und] Müller-Lüdenscheid: Das hätte genauso gut in der Stadt sich abspielen können. Stadt und Land gibt sich da die Hand. Das war — kleinbürgerlich. Als kulturelle Mentalität: kleinbürgerlich. Das heißt: Man will die Routine behalten, will die Ordnung behalten. Man will die Ordentlichkeit. Man will keine Experimente — ein alter Wahlslogan von Adenauer, in der Adenauerzeit. Dann kappeln die sich um Kleinigkeiten, um kleinste Kleinigkeiten. Es geht immer um Ordnung, um Ordnung und Ordentlichkeit.

Aber ist das dann nicht auch Seele der Provinz? Möglicherweise ist es auch eine Generationsfrage — die Furcht vor der Spießigkeit der Provinz. Man darf ja nicht vergessen, daß es gar nicht so lange her ist, da durfte ja ein Schwarzer gar nicht in bestimmte Teile Bayerns einreisen. Oder nach dem Fall der Mauer. Da gab es furchtbare Überfälle. Diese Piefigkeit, diese Spiessigkeit, diese Arroganz der Provinz. ... Früher sagte man: Stadtluft macht frei. Heute ist es die Provinz, die frei macht?
Ich denke, es gibt bestimmte Agenten des Städtischen, die aber keine Städtischkeit aufs Land bringen, sondern die — man könnte sagen - am Dorf und an der Kleinstadt vorbei aufs Land ziehen wollen. Das heißt: Sie wollen sich im Prinzip nicht auf die Orte einlassen, wo sie hingehen, sondern wollen eine Art von Landromantik bedienen. Wenn wir auf den Zeitschriftenmarkt gucken: Landliebe, Landlust usw.. Landlust erscheint als Zielgruppenillustrierte mit 800.000 Auflage. Wer liest sowas?

Ich nicht. [lacht]
Wer braucht sowas? Da ist eine Sehnsucht da drin — Panik und Sehnsucht, möglicherweise gleichzeitig. Panik, nicht alles mitzukriegen, was auf der Welt passiert. Seine Ruhe haben wollen, keinen Stress haben wollen und trotzdem den Daumen am Puls der Zeit haben wollen.

Und da hilft dann das Internet dabei. Ist das globale Village die Basis, die wir gleichzeitig mit unserer Sehnsucht nach Bodenhaftung, die wir gleichzeitig im dörflichen Umfeld bedienen?
Ich glaube ja — sowohl als auch; jeder tariert das für sich selber aus. Und ich denke, die Theoretiker, die heute sagen: Wir brauchen gar keinen konkreten Boden mehr, auf dem Menschen leben, sondern: alles spielt sich im virtuellen Raum ab ... die werden in fünf Jahren relativ still werden. Ich glaub nicht dran.

Gibt es da so n deutschen Sonderweg, haben Sie da so etwas beobachtet? Die großen Metropolen — Paris. London, Rom - die wachsen wie verrückt, die explodieren, Madrid auch. In Deutschland? Berlin schrumpft!
Paris hat ein anderes Hinterland. Paris hat ein Hinterland, was im Maghreb liegt, beispielsweise. Und unser föderales System hat seine starken Städte. Wenn man also auf den Begriff zurückgeht, auf den Begriff Provinz: Das war das römische Herrschaftsgebiet außerhalb von Italien. Und ziehen Sie mal diese Linie von Trier über Köln über Mainz undsoweiterundsoweiter bis runter nach Regensburg. Das sind starke Städte, auf die man sich verläßt in seinem eigenen persönlichen Selbstbewußtsein.

Professor Heinz Schilling, haben Sie vielen Dank, daß Sie bei uns hier im Studio waren. Wir könnten die Diskussion, das Gespräch noch viel länger weiterführen. Aber für heute muß es zunächst mal reichen.

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