Dr. Heinz Schilling • Professor für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main

|Vorträge|



Das inszenierte Dorf

Ein Seminar im Sommersemester 2015


Warum diese Land-Euphorie unserer Zeit? Hervorragend in Szene gesetzt in strahlend bunten Idyll-Magazinen à la "Landlust". Und auch das lange verächtlich benutzte Wort "Dorf" ist wieder "in". Dorf - Land - Region - Heimat, diese benachbarten Territorien der Gefühle, deuten hin auf eine umfassende Kulturstimmung in unserer Gesellschaft. Eine Stimmung mit vielerlei aktuellen Ausdrucksformen in einem größeren Bedeutungsfeld zwischen nostalgisch-gefühliger Behäbigkeit ("Neo-Biedermeier", "Bionade-Spießer") und einer Welt in Aufruhr. Eine Stimmung, die nicht einfach über Nacht auftaucht, sondern ihre ideengeschichtlichen Traditionslinien hat. Sie sollen in diesem Seminar betrachtet werden, beginnend mit dem 19. Jh.bis hin zur erstaunlichen "Dorf"-Karriere unserer Tage. Dorf? Dabei kann es sich um imaginierte, imaginäre, fiktive, projizierte oder sogar um reale Dörfer handeln.

Der folgende Text ist die Vorschau auf ein für Studierende der Universität des 3. Lebensalters an der Goethe-Universität Frankfurt angebotenes Seminar. Es folgte nicht unbedingt dem hier vorgestellten Konzept.
Als Prospekt bleibt er hier unverändert. Eine Seminarbilanz finden Sie hier.

Aber was am Dorf ist real -
außer den Vorstellungen davon in unseren Köpfen?


Kein Mensch hat das Dorf Zellhausen um 1850 so gesehen. Dieses Vogelschaubild ist eine historische Projektion auf der Basis zeitgenössischer Katasterunterlagen. Gezeichnet hat es der Geometer Lothar Keck im Jahr 1975

Das Dorf als Vorstellungsbild ist eine Hervorbringung der deutschen Romantik. Daß das Dorf im 19. Jahrhunderts anfänglich eher ein Handlungshintergrund der Poesie war (Tieck, Hauff, Hebel), dann aber zum eigenständigen literarischen Thema wird, kann man auch als eine Reaktion auf die zu jener Zeit sich stark entwickelnde Industrialisierung sehen. 1843 erschienen die Schwarzwälder Dorfgeschichten, in denen der Autor Berthold Auerbach zum ersten Mal "ein ganzes Dorf vom ersten bis zum letzten Hause" schilderte und damit sogar der Gattung Dorfgeschichte den Namen gab. Damit war das Dorf auf die kulturelle Bühne getreten. Doch: Wie sehr dies mit tatsächlichen Lebensbedingungen in Dörfern korrespondiert mag die massenhafte Emigration jener Zeit illustrieren. Um ein einziges Beispiel zu nennen: Im Jahr 1842 wanderte das ganze Vogelsberg-Dorf Wernings - verarmt, industriefern - nach Amerika aus, um dort eine neue, glückverheißende Heimat zu suchen. "Etwas Besseres als den Tod findest du überall", heißt es im Märchen.


 

Ein Zeitsprung:
2013 kommt "Die andere Heimat" von Edgar Reitz in die Kinos. Der Film spielt in den Jahren ab 1840 in einem verarmten, drangsalierten Hunsrückdorf. Zunächst ist es nur ein Bauernbub, der davon träumt, auszuwandern und anderswo das Glück zu suchen. Dies ergreift immer mehr Ortsbewohner - bis zum gemeinsamen Auszug vieler Familien in die neue Welt. Etwas Besseres als den Tod würden sie überall finden.

Gedreht wurde der Film im Hunsrückort Gehlweiler, der dafür von geschickten Handwerkern in das Dorf "Schabbach" von 1840 verwandelt wurde. Eine konsequente Fiktionalisierung von Handlung und Handelnden, von Lebenswelt und Ort: Schabbach ist ein in seiner direktesten Bedeutung erfundenes und inszeniertes Dorf.


links: Das Don-Camillo-und-Peppone Dorf

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Thema Dorf immer wieder - in Romanen, Filmen, Theaterstücken - inszeniert. Damit meine ich, daß das Dorf - ob authentisch oder imaginär - nicht nur Kulisse oder zufälliger Schauplatz einer Geschichte ist, sondern deren Inhalte beeinflußt, also auch "mitspielt". Und bisweilen sogar die Hauptrolle einer jeweiligen Inszenierung übernimmt. In dem Seminar kann "Inszenierung" vieles bedeuten:


Das erzählte Dorf

Dorf als Narrativ. Als Autoren von Romanen und Novellen sind zur Zeit in meiner Auswahl: Berthold Auerbach, Gottfried Keller, Karl May, Oskar Maria Graf, Emerenz Meier, Elisabeth Langgässer, Carlo Levi, Elenore Smith Bowen, Peter Kurzeck, Philippe Claudel, Alfred Gulden, Anna Wimschneider, Annegret Held, Andrea M. Schenkel.


Eigentlich wollte er Maler werden. Und wurde Dichter: Gottfried Keller
"Romeo und Julia auf dem Dorfe" heißt die wohl bekannteste Erzählung aus seinem Novellenzyklus "Die Leute von Seldwyla". Das Bild zeigt eine romantische Dorfansicht Gottfried Kellers, entstanden um 1840

Wie eine Geschichte sprachlich gestaltet ist - Gestus und Stil des Erzählers, Glaubwürdigkeit von Handlung und Ort - hängt vom so genannten Fiktionalitätskontrakt des Autors mit seinen Lesern ab. Das heißt, von dessen Talent, Charaktere und Handlungskontext in Szene zu setzen.
Sie als Seminarteilnehmer können weitere Autoren/Werke vorschlagen.


Im verfilmten Dorf

treffen sich Fiktion und Realität. Beispiele werden u.a. sein: "Die andere Heimat" (Teil IV der Schabbach-Saga von Edgar Reitz), "Clochemerle" (nach dem Roman Gabriel Chevallier), "Grenzfall Leidingen" von Anfred Gulden über das Dorf L. auf der deutsch-französischen Grenze.


Das verfilmte Dorf ist mehr als nur eine Variante des erzählten Dorfs. Film erfaßt die menschlichen Sinne intensiver.
Ich habe "Die andere Heimat" in einem Frankfurter Kino gesehen - inmitten eines wahrhaft ergriffenen Publikums. Vielleicht stärker noch beeindruckt als der fast vierstündige Film hat mich die Dokumentation "Making of Heimat". Mit dieser detaillierten Chronik einer Dorf- Inszenierung werden wir uns im Seminar auseinandersetzen.




links: Carl Bantzers Schwälmer Tanz 1898. Ausriß Frankfurter Rundschau

rechts: Kirmestanz in Mardorf 1936. Originalaufnahme: Ludwig Philipp Marck

Dorf im Bild

Wenn wir über das gemalte und fotografierte Dorf sprechen, dann soll ein weiterer Aspekt von Inszenierung aufgerufen werden. Dabei geht es weniger um das Dorf als bebaute denn als soziale Umwelt. Gegenstand von Malerei und Fotografie sind auch die Menschen im Dorf.


Das erforschte Dorf

Eine Seminarsitzung ist eigens dem erforschten Dorf gewidmet: Anfangs des 20. Jahrhunderts entwickelten sich neben dem sozialwissenschftlichen Interesse am Dorf auch systematische Erkundungsmethoden vor Ort. Feldforschung als empirische Praxis war damit nicht länger auf ferne Länder und Kulturen beschränkt. Ethnologen "entdeckten" vor genau 100 Jahren ihre Forschungsgebiete fast direkt vor der Haustüre.
Typisch dafür sind zuweilen ausgiebig lange Forschungsaufenthalte vor Ort, u.a. der von Mathilde Hain in Mardorf, von Laurence Wylie in Peyrane, von Albert Ilien und Utz Jeggle in Kiebingen, von Anthony Cohen auf Whalsay und von Gertrud Hüwelmeier in Hasselbach.

 
Peyrane nannte Laurence Wylie das Dorf in der Vaucluse (Südfrankreich), in dem er über ein Jahr ethnologische Feldforschungen durchführte

Besondere Aufmerksamkeit verdient die Erforschung von Dörfern in der Stadt, zum Beispiel in Chicago, der einst weltweit schnellstwachsenden Immigrantenstadt.
Wichtigste Forscher dort waren: Robert E. Park, William I. Thomas/Florian Znanieci, E.W. Burgess und Louis Wirth, der, nebenbei bemerkt, aus dem Hunsrück stammte.


Das erneuerte Dorf

Wir werden sprechen über das erneuerte Dorf:
Seit 1980 gibt es in mehreren Bundesländern staatliche Dorferneuerungsprogramme. Ziel ist es, Orte "für die Zukunft fit" zu machen. Manche Dörfer griffen die Fördergelder lediglich ab, nur um dabei zu sein. Positive Gegenbeispiele gibt es dort, wo Bürger aktiv mitwirken, Ideen entwickeln, über deren Sinn streiten. Ideen, die ihren Ort letztlich attraktiv - also auch in der Gegend sichtbar - machen, dörfliches Wirbewußtsein neu fundieren und der Landflucht entgegegenwirken sollen. Wie kann man ein Dorf nachaltig "erneuern" - oder bleibt es bei einer effektvollen Inszenierung?



Das sich erinnernde Dorf

Ein "rundes" Jubiläum ist Anlaß für eine Chronik. Sie dient der Selbstvergewisserung des Wir im Dorf oder Verein: Wer sind wir, wo kommen wir her? Chronik "light" bieten hie und da Broschüren mit Kurzdarstellungen der lokalen Geschichte. Zwischen Vorworten und Grußadressen politischer Prominenz, Festprogramm und ausgedehntem Reklameteil finden sich leichtfaßliche Darstellungen der historischen Karriere des jeweiligen Dorfs, nicht selten nach dem Motto "So möchten wir gerne gewesen sein". Die publizistische Verfertigung kollektiver Selbstbilder deuten anthropologisch auf die Notwendigkeit hin, sich zu erinnern. Sich darzustellen, sich auszustellen. Sich auch einem - dem Dorf fremden - Publikum zu zeigen, rückt den Aspekt der Inszenierung näher heran. Dies illustrieren Beispiele historischer Dorf-Selbstdarstellungen auch im Internet.


Das feiernde Dorf

"Das Dorf ist auch nicht mehr das, was es noch nie war" - so sagen es kritische Forscher, die das dörfliche Harmonieprinzip hinterfragen. Sie sehen das Dorf nüchtern als ein System gegenseitigen Aufeinanderangewiesenseins, wie es bis zur Mitte der 1950er Jahre funktionierte. Die Harmonisierung der Widersprüche auf nahem Raum (Bauern vs. Arbeiter; Flüchtlinge vs. Eingesessene) hatte lange Zeit soziale Differenzen überdeckt. Neubauviertel und städtische Zuzügler waren dann aber sichtbare Zeichen des Auseinanderlebens, einer Segregation des Dorfs. Dagegen nun wurde just die alte Gemeinsamkeitsidee durch Ortsvereine und Feste quasi wiederbelebt. Und genau sie gelten heute als Symbole - gelegentlich sogar als Kitt - dörflicher Identität.
Generell gilt: Feste und Feiern sollen Gemeinschaft stiften und sie sichern. Hierbei soll insbesondere das große Fest zum runden Ortsjubiläum milieu- und ortsübergreifend wirksam werden. Feste haben, ohne daß dies wahrgenommen wird, eine innere Ordnung. Sie sind stark ritualisiert und spiegeln die gesellschaftliche Struktur der feiernden Gemeinschaft wieder. Sichtbar wird bei Festzügen durch die Ortsstraßen etwa die Trennung von Akteuren (Planung, Organisation, Regie) und genießendem Publikum.
Was von einem Fest "bleibt" wird heute oft, auch in professionell hergestellten, Filmen dokumentiert. Diese lassen, bei genauem Hinsehen, eine eigene Form der Inszenierung erkennen.
1200-Jahre Allershausen..."Ein Festumzug schreibt Geschichte", sagt die Zeitung



Das deutsche Dorf

In Südosteuropa (Banat, Siebenbürgen, Bessarabien) gab es die ältesten Ansiedlungen deutscher Auswanderer, historisch folgten Ortsgründungen in Rußland und den beiden Amerikas.
Das jüngste "deutsche Dorf" hingegen existiert seit wenigen Jahren im Süden Koreas auf der Insel Namhaedo: Es heißt Dogil Maeul, wird bewohnt von Koreanern, die in den 1960er Jahren als Bergleute oder Krankenschwestern nach Deutschland gekommen waren und nach ihrer Gastarbeiterzeit, zusammen mit ihren deutschen Ehepartnern, in der alten Heimat Korea nun das dritte Lebensalter verbringen.

1997 reiste ein koreanischer Bürgermeister aus einer Gegend mit starkem Bevölkerungsschwund nach Deutschland und warb eine Reihe einstiger Arbeitsmigranten quasi "zurück". Inzwischen ist ein völlig neues "deutsches Dorf" mit über 40 Häusern entstanden - eine Attraktion in Korea, die alle Vorstellungen von "deutsch" perfekt bedient und auch Schauplatz eines Dokumentarfilms mit dem Titel "Endstation der Sehnsüchte" ist. Geplant ist nun ein weiteres "German village" an einem anderen Standort.
Ortskundiger Seminargast ist Stephanie Boss.

Literatur:
Heinz Schilling: Neue Dörflichkeit. Kulturanthropologische Habilitationsschrift, Frankfurt 1992

Bildnachweise mit Dank an die Inhaber von Urheberrechten
Lothar Keck (Zellhausen); Gunter Weber (Die andere Heimat); Joachim Henrichs (Gehlweiler); Wikimedia commons, Fotograf László Szeder (Brescello); Alfred Gulden/SR (Leidingen [2]); Wikimedia commons, Fotograf Hawobo (Roussillon/Peyrane); http://www.grosslangheim.de (Screeshots Dorferneuerung [3]; LAGIS (Ludwig Philipp Marck: Dorftanz re); Jens Wagner (Allershausen li.); Presssefoto Rainer Lehmann (Allershausen re.); Flying Moon Filmproduktion (Namhae li): Wikimedia commons (Namhae re); andere Bilder und Screenshots aus dem HS-Forschungsarchiv


Lesen Sie hierzu: DAS INSZENIERTE DORF. Eine Seminarbilanz (PDF)

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