Heinz Schilling
Gedanken und Bilder zur Vorbereitung auf das Seminar Balzac kulturanthroplogisch lesen
im Sommersemester 2018 - Goethe Universität Frankfurt U3L
Literatur ist Umverteilung von Erfahrung. Man kann Romane als ein Medium nutzen, um als Anthropologe ein Gespräch mit der Vorstellungswelt und dem Bedeutungskontext von Autoren zu führen. Für den Forscher wie für den Romancier ist der fremde Blick wesentlich. Für ersteren ist er die Voraussetzung zur Erfahrung der Differenz zwischen eigener und fremder Kultur oder zwischen der idealen und der realen Kultur der eigenen Gesellschaft. Und für den Dichter ist die Entwicklung eines fremden Blicks Voraussetzung für die poetische Konstruktion der eigenen Gesellschaft als Schritt zur Dekonstruktion ihrer verfestigten kulturellen Selbstverständlichkeiten. Ich „interviewe“ fiktionale Literatur gern wie eine ethnologische Quelle und Repräsentantin ihrer Kultur. Dies als Versuch, ein – wie Clifford Geertz es sagt – „fremdes Universum symbolischen Handelns" zu durchdringen.
Balzac – kulturanthropologisch lesen
Honore de Balzac (1799-1850) gilt als der produktivste und wohl auch berühmteste französische Romanschriftsteller des 19. Jahrhunderts. Seine Comádie humaine scheint heute ein fester Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses Frankreichs. In diesem Gedächtnis gibt es beispielsweise folgende Einträge:
Was Balzac nicht alles war in seinem Leben: Er repräsentiert so gut wie die gesamte Produktionskette der Literaturherstellung von der Recherche bis zur x-ten Fassung einer Novelle oder eines Romans. Zeitweilig war er sogar Verleger und Druckereibesitzer.
Seinem literarischen Schaffen lag, wie er betont, keine Programmidee von Anfang an zugrunde. Erst nach Jahrzehnten des Schaffens daran verlieh er seinem inzwischen entstandenen und immer weiter wachsenden Werk ein integrales Label: „Die menschliche Komödie“. Es bezeichnet – in Anlehnung an Dantes „Göttliche Komödie“ – sowohl die individuellen Existenzbedingungen und Schicksale von Menschen als auch das gesellschaftliche Theaterstück, das jeder mit jedem spielt und und das alle miteinander inszenieren.
Balzac erfindet eine Welt, die es tatsächlich gibt
Vielleicht ist solch ein Satz der Kern des Fiktionalitätskontrakts, den jeder Leser mit Balzac schließt. All die „Verlorenen Illusionen“, alle Typen und Persönlichkeiten, alle Parvenüs und gescheiterten Existenzen, all die „Eugánie Grandets“ und „Goriots“, alle Vettern, Herzoginnen, Parfümfabrikanten, Landärzte, Offiziere, junge und alte Jungfern, Cousinen, Banker und Kleinbürger (um einige der titelgebenden Begriffe der mehr als einhundert Einzelwerke der „Menschlichen Komödie“ mit ihren über zweitausend Figuren zu nennen) handeln in einer imagnierten Lebenswelt. Balzacs Kosmos hat, trotz ihrer nicht wenigen unmöglichen Plots und verblüffenden Wendungen eine eigenartige Qualität: Sie ist glaubhaft dargestellt.
So unglaublich glaubhaft, daß aus der Summe aller menschlichen Wesenszüge und Obsessionen bei Balzac das universale Bild einer Epoche und einer Gesellschaft hervorscheint: Frankreich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Ein Frankreich, das in mancher Hinsicht – etwa mit Blick auf die gesellschaftlichen Strukturen – den Dichter bis heute überlebt.
Balzac sieht sich selbst, als „Sekretär“ der Historie seiner Nahwelt. Und, lange bevor es diesen Begriff gibt, als eine Art Feld-Forscher, der „mit einer Laterne in der Hand in den letzten Winkel der Gesellschaft“ hineinleuchten will.
Selbst in der Provinz aufgewachsen entdeckt er, herumstreunend und keineswegs systematisch recherchierend, die Metropole Paris als ein Universum menschlicher Leidenschaften und Glücksentwürfe und beobachtet – ohne moralische Aufwallung – den Tanz um das Goldene Kalb, um die Götzen Geld, Position und Prestige. Wobei die átudes de moeurs, die einen wesentlichen Teil des Gesamtwerks ausmachenden „Sittenstudien“, sich keineswegs auf die deutsche Bedeutung von „Sittlichkeit“ beschränken, sondern, umfassender, Lebensart und Lebensweise meinen.
Balzac schildert Persönlichkeiten und Chargen, Helden und Antihelden; beschreibt individuelle und kollektive Identitäten sowie Handlungsstile und Verhaltensmuster des Wohnens, Kleidens, Essens, Sterbens. Und des Erbens.
Er dokumentiert öffentlichkeit, Privatheit und Intimität in allen denkbaren Schattierungen und entwirft, ausgestattet mit faktengestützter Phantasie für authentisch klingende Lebensläufe seiner Protagonisten, Alltagswelten in Stadt und Land – in Paris und immer wieder auch in der Provinz. Orte wie etwa Angoulême oder Saumur sehen sich dadurch als wahrgenommen in der Hauptstadt Paris und ihre Reputation dort gesteigert. Balzac macht das Verhältnis von Arm und Reich identifizierbar und für seine Leser quasi miterlebbar an typischen Schauplätzen – an gesellschaftlichen Grenzen und Abgrenzungen zwischen Ständen, Klassen und Geschlechtern, zwischen Milieus und Mentalitäten. Stets begleitet von der Frage: Was ist der Mensch?
Menschenbild – Gesellschaftsbild – Weltbild
Was ist und: Wie lebt der Mensch? Das klingt wie die kultur-anthropologische Frage schlechthin. Honorá de Balzac beantwortet sie auf seine Weise facettenreich in seiner Comádie humaine. Oder würde, mit einem Augenzwinkern gefragt, in diesem Vorspann zu einem Seminar ein Titel wie „Balzac oder Wie er die Welt sah“ in Anlehnung an John Irvings Garp-Roman nicht auch ganz gut passen? Im Seminar soll versucht werden, aus dem erzählerischen Werk Balzacs das „Anthropologische“ herauszulesen, Leben und Zusammenleben als dynamischen Prozess zu betrachten: als Kultur. So soll Balzacs Menschen- und Gesellschaftsbild dechiffriert sowie sein Weltbild betrachtet werden.
Ich werde die Gesellschaft einer ganzen Epoche in meinem Kopf getragen haben.
Ziel wird auch sein, so etwas wie die anthropologische Aktualität eines Bestsellerautors von vor bald zweihundert Jahren – mit seinen Konzessionen an ein auf Unterhaltung gestimmtes Lesepublikum –zu diskutieren:
Wie erkennen wir unsere eigene heutige Zeit in der „Menschlichen Komödie“, die Balzac selbst als eine „Naturgeschichte der Gesellschaft“ sah?
Dieses Seminar hat keinen primär literaturwissenschaftlichen oder historischen Ansatz. Ich wünsche mir dafür lesefreudige und gesprächsbereite Teilnehmer. Das meint auch die Bereitschaft, mit eigenen Beiträgen (Kurzreferate, Diskussionsvorschläge) an der Gestaltung aktiv mitzuwirken.
Um folgende Fragen könnte es einleitend gehen:
Und wer ist das da links? Es ist Lucien de Rubemprá, ein junger karrieresuchender (wo anders als in Paris?) Mann, recht geckenhaft anmutend. Im Juni 1819 betritt er zum ersten Mal Pariser Boden. Paris ist die Stadt der Verheißung. Sie soll dem jungen Provinzdichter das geben, was ihm das schnüffelnde und müffelnde Provinzstädtchen Angoulême versagt. Nein, er muß nach Paris! „Gehen Sie dorthin“, wird er bedrängt, „dorthin, wo alle Männer von Genie sind.“ „Dort, mein Lieber, leben die Leute von Rang“, „die das 19. Jahrhundert verkörpern werden.“ „Paris [ist] die Metropole der geistigen Welt“.
Was folgt ist in in dem Roman „Verlorene Illusionen“ von 1843 ironisch mit „Ein großer Mann der Provinz in Paris“ überschrieben: Wie vom Himmel gefallen erfährt der Neuankömmling die Stadt und ihre Menschen, deren Zahl gerade auf die Million zugeht. Alles macht er falsch. In acht Tagen gibt er das für ein ganzes Jahr eingeteilte Geld aus; kleidet sich neu ein und wird – sich ein einziges Mal nur im Foyer der Oper wie ein Papagei präsentierend – zum Gespött der Pariser.
Der große Mann der Provinz wird ganz klein, bleibt aber entschlossen, sagt er, sich „auf die Höhe der Dandys zu begeben“. Nur diese Stadt hat viertausend hübsche Droschken sonntags auf den Champs Elysáes. Nur diese Stadt hat diese schönen Frauen, hat Flair, Luxus, die Theater, in deren Logen das eigentliche Stück spielt. Das Stück heißt „Gesellschaft“. Tout Paris - das sind auch die zwanzig Salons wo die, die dazugehören, „notwendige Belanglosigkeiten“ austauschen. Im Kreuzungspunkt aller Professionen und Interessen, aller Begierden und Exzesse gibt es speziell das Palais Royal. Waren die Verheißungen falsch? „Die Gesellschaft nahm andere Proportionen an“, schreibt Balzac. Diese Stadt war die Welt, eine Bühne, die Lucien betrat und das „Pariser Gelächter“ hörte, das jeden Tag einen anderen traf. „Vergrößerung des Lebens in der Stadt“, schreibt er nachhause in die Heimat Angoulême, bedeute zugleich „erschreckende Eile“. Und gleich wieder enthusiastisch: „Hier ist das Land der ... Denker und der Dichter. Hier allein entfaltet sich der Ruhm. ... Hier allein kann der Schriftsteller in den Museen und ... Sammlungen die lebendigen Meisterwerke vergangener Zeiten finden, die die Phantasie beflügeln. ... Hier allein bieten riesige, zu jeder Stunde geöffnete Bibliotheken dem Geist Auskunft und Nahrung.“ Rechts auf dem Bild, das ist Daniel d’Arthez, Haupt eines Literatenzirkels. Wir sehen ihn, wie er mit einer Neuerscheinung in der Hand doziert. Lucien hört ihm aufmerksam zu; hier kann er etwas lernen. Der folgende gehört zu den schönen Sätzes des Romans: Lucien „sagte sich schlechthin, daß Paris die Hauptstadt des Zufalls sei, und er glaubte für einen Augenblick an den Zufall“. Und daran, daß die Stadt die Kränkungen der Provinz heilt. Einerseits: Er reüssiert als Journalist, lernt etwa, dass man über ein überzeugendes Buch einen Verriss schreibt, den Konkurrenten niedermacht, um sich selbst höher zu etablieren. „Journalisten sind Akrobaten“, sagt ihm jemand. Er wird ein Liebling der feinen Gesellschaft. Andererseits aber gerät er immer tiefer in Intrigen und Spekulationen, in Schulden und in Schuld. Dieser Lucien de Rubemprá, eine der charakteristischsten Figuren Balzacs, ist wohl Balzac selbst; der autobiografische Zug ist deutlich: Man muß offenbar wie Balzac aus Tours, aus der Provinz kommen (sein Vater war der Sohn eines Bauern namens Balssa in der Provinz nördlich von Toulouse), um mit dem fremden Blick – und das ist der kontrastive Blick des Ethnologen – zu erklären, was das Prinzip Stadt und wie Paris, die „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ (Walter Benjamin) funktioniert. Im Gegensatz zum Paris anderer Romanciers ist die Stadt im ganzen großen Romanzyklus der Comádie humaine nie Kulisse, sondern konstitutiv für Leben und Leidenschaften von Menschen, für Mentalitäten und Milieus. Und vor allem: Der Ort von Konflikten wie von erlösenden Utopien. Meine These lautet, dass gute Romanautoren oft auch gute Ethnografen sind; Balzacs Schreibethos mutet in der Tat anthropologisch an, denn er begreift den Menschen als Geschöpf und zugleich als Schöpfer von Kultur, in sie hineingeboren und sie verändernd. Nebenbei: Pierre Bourdieu, der große Soziologe und Ethnologe unserer Zeit, beruft sich nicht ohne Grund auf „Reporter“ wie Balzac und Flaubert. Sie zeigen nicht, daß eine Stadt Kultur hat, sondern wie Stadt Kultur ist.
Lesestoff
Für das Seminar stehen folgende Romane zu Wahl:
- Verlorene Illusionen
- Eugánie Grandet
- Die Kleinbürger
- Ein „Balzac“ nach Vorschlag von Seminarteilnehmern
- Vater Goriot
- Vetter Pons
- Tante Lisbeth
- Das Chagrinleder (auch u.d.T. Die tödlichen Wünsche)
Zum privaten Lese(vergnüge)n empfehle ich:
Achtung: Balzacs „Vorrede zur Menschlichen Komödie“ findet sich an unerwartetem Ort hier: http://gutenberg.spiegel.de/buch/eugenie-grandet-4850/2
Fragen und Anregungen bitte an h.schilling@em.uni-frankfurt.de