Dr. Heinz Schilling • Professor für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main

|Aufsätze|



Heinz Schilling:
Leben gegenüber. Nachbarschaft mit einem Fenster

Der Soziologe Richard Sennett ist ein Denker, der das Phänomen des Städtischen durchschaut hat: "Zivilisiertheit bedeutet, mit den anderen so umzugehen, als seien sie Fremde, und über diese Distanz hinweg eine gesellschaftliche Beziehung zu ihnen aufzunehmen." Der Ort, wo sich dies am deutlichsten ausprägt, ist für ihn die Großstadt als Siedlungsform, die das Zusammentreffen von Menschen wahrscheinlich macht, die einander fremd sind. Und sich fremd bleiben sollten. Weshalb Sennett für prinzipielle urbane Anonymität plädiert.
Das kommt mir in den Sinn beim Betrachten der Fotos, die Renate Sautermeister von einem Fenster gemacht hat. Von einem einzigen Fenster. Über Jahre hinweg. Und nie einen Menschen dort sah. Nie einen Gruß schickte über die Hinterhofschlucht hinweg: Na, wieder alles sauber? Und, wie geht's dem Bein?
Nie so etwas. Unglaublich. Trotzend Sennetts schwarzer Prognose, das Urbane werde tendenziell der Tyrannei der Intimität zum Opfer fallen, die Stadt ihre wahre zivilisatorische Qualität — Distanz — emotionaler Verdörflichung opfern.
Die Fotos haben ihre ästhetische Dimension, betrachtet man sie abstrakt, losgelöst von Ort und Zeit ihres Entstehens. Sie gewinnen, erfährt man etwas darüber, eine soziale Dimension. In ihr spielen Komponenten wie Raum und Relation, Geschichte und Identität eine Rolle. Die Fotos zeigen ein schiefergerahmtes Fenster nahezu frontal gegenüber. Gegenüber meint nicht die Mansarde eines Nachbargebäudes, sondern: im selben Haus gegenüberliegend. Kamerastandort und fotografiertes Objekt sind im selben Haus. Das Fenster ist eins der schier unzähligen Augen eines Baukörpers, den man vor hundert Jahren "um die Ecke" gewunden hat, wo mehrere Wege sternförmig zusammenkommen. Auf einem gekappten Dreieck am Treffpunkt zweier Straßen lagert es, ein Trumm von Haus, die bebauten Schenkel gehen nur 36 Grad auseinander.
Das Haus hat alles doppelt: je zwei Adressen, Haustüren, Treppenhäuser. Auf elf Briefkästen stehen zwei Dutzend Namen. Die Wohnungen gehen vorneraus, hinterhofwärts laufen die Flure. Gemeinsam sind Höfchen und Dachgeschoß, dieses durch eine Pappwand zweigeteilt. Zur Straße hin gewähren 100 Fenster den Blick auf einen höchst vitalen öffentlichen Raum. Erhaben über dem Asphalt dienen zehn Balkone und Erker weniger der Kommunikation als der Begutachtung der Außenwelt.

Ich stelle mir vor, wie die Künstlerin das Fenster überm Hof wahrgenommen, entdeckt, liebgewonnen, als ästhetisches Objekt adoptiert hat. Stelle mir vor, ich selbst blicke aus ihrem Flur:
Da drüben — das sind die anderen. Sie bespielen ihre Bühne. Welche Performance gibt es heute? Wie ist die Ausstattung, welche Farben, wer spielt noch mit? Ein Stück en suite mit dreitausend Akten, einige sind dokumentiert. Hauptfiguren: Gazebinden, Hemden, Hosen, Socken, Handtücher, Stores, schlaffe Strumpfhosen, Unterzeug wie Akrobaten aus dem chinesischen Staatszirkus, Kissen, federkernpralle Matratzen... Vorhang.
Im Grunde stets das gleiche Stück, Titel: Wir warten auf das Trockenwerden. Nie ein leibhaftiger Akteur. Aber die elastische Binde, ein M formend, das rote Hängerchen, sind sie nicht Stellvertreter für Menschen, die sie wickeln, anziehen, ausziehen? Die auf links gewendete Hose, das rote Sockenpaar, das stracke Doppelrippgewirk — sind sie Signale ohne Adresse, zeitlos? Nie wird hastig oder geruhsam etwas abgehängt, nie geprüft: ist es schon trocken, kein tropfendes Teil ins Spiel mit dem Wind auf die Fensterbühne geschickt zum abertausendsten Akt. Es ist immer alles gleich da.
Um den Zauber der Szene zu bewahren, müssen sie gar nicht erscheinen, die Menschen mit der einzigen Botschaft: Wir leben noch.
Nein: Sie zeigen mir kein Stück. Ich imaginiere ein Stück: Ausschnitte aus der Rückseite des Alltags von denen da drüben. Für sie ist ihr Fenster Werkzeug, unbefragt vorhanden, um das Außen wie ein Innen zu gebrauchen.
Einerseits: Fenster sind Schaubühnen rahmende Werkzeuge. Andererseits: Fenster sind Bilder schneidende Werkzeuge.
Zu den Werkzeugen der Malerin Renate Sautermeister gehören Rahmen. Ich vermute, daß man als Künstler einen rahmenden Blick hat, stets den Ausschnitt bestimmt, der das Ganze zeigt, das Fragment sucht, Imagination in Gang zu setzen.
Die Kamera rahmt wohl von selbst. Das Fenster ist nur wenige Meter entfernt. Leicht überspringt sie den Zwischenraum. Die Fotos, so nah sie abbilden, haben eine intime Tiefe und wahren doch Distanz.
Im gegebenen Rahmen steht es dem Fotobetrachter frei, diesen Blick mit Sinn aus dem eigenen Bedeutungsvorrat aufzuladen, mit Fragen nach der Kontinuität der Vergänglichkeit, nach der Mediokrität von Alltag, nach der Faszination des Abgewandten im Leben. Frei, dem Unbedeutenden Bedeutung zu verleihen.

Ein Fenster. Es ist die Komposition des Seriellen und die lebensgeschichtlich investierte Beharrlichkeit, der Sinn für kleinste Veränderungen bei der Fotografin, die dieses Fenster zu dem Fenster machen, das mir nie wieder aus dem Sinne gehen wird.
Das Thema wird zur Kippfigur. Ich blicke durch Fotos, Linse, Auge der Fotografin auf das Fenster, verorte mich dort, drehe mich um, versetze mich an die Stelle des wäscheaufhängenden Bewohnerpaares, fasse ein Fenster ins Auge, von dem aus da eine Frau fotografiert. Hat man sie je erspäht, wie sie das Objektiv einrichtet, wartet, auslöst? Ich stelle mir vor: Für das Paar scheint der Hinterhof — in dieser Höhe, 5. Stock — ein sozialblindes Areal; weder beachten noch betrachten sie die Gauben schräg gegenüber. Sie nutzen lediglich ein Fitzelchen davon, den Meter direkt vor ihrem Fenster, fragen weder nach netter Performance noch nach Augen auf der anderen Seite — jeder ist des anderen andere Seite — sondern kehren ihre Dinge nach außen. Distanzlos, ungeniert. Ein Kontakt mit der Welt wird nicht angestrebt.
Doch es ist da keine Reziprozität des Ignorierens, die Fotografin hält Kontakt zu dem Fenster wie zu einem lebendigen Organismus. Für sie sagt das Fenster gegenüber zunächst einmal, daß da jemand lebt, ein emotionsloser Befund: da lebt jemand, denn da ändert sich ständig etwas, das Bild wechselt. Das spielt sich vor ihren Augen als Nachbarin ab. Sie erachtet das Fenster für wert, es zu sehen, es wahrzunehmen, es aufzunehmen. Ihre Eindrücke von den windigen Stücken wird über die Kamera verlängert bis zu den Augen des Betrachters, des Publikums einer Ausstellung und bis zur Rückverwandlung der betrachteten Fotografie zu einer Vorstellung, vielleicht zu einem Gefühl von einem Fenster.
Es kann sein, daß das innere Wahrnehmen des Bildes der entscheidende Moment für Renate Sautermeister war. Der Augen Blick, der eine Hinterhof-Dutzendsituation aus der schablonenflächigen Belanglosigkeit herausheben und zu dem machen, was der Pariser Ethnologe Marc Augé einen anthropologischen Ort nennt — im Gegensatz zu architektengezeugten Nicht-Orten, die das Funktionieren des Menschen in der Moderne beim Kaufen, Reisen und Wohnen sichern sollen: Shoppingmall, Autobahnkreuz, Ölraum. Ein Ort im Sinne Augés zeichnet sich aus durch individuelle Aneignung, durch Relation, Geschichte und Identität. Es handelt sich um Prozesse der Wertbehaftung von Dingen durch den Menschen. Der anthropologische Augenblick für die Fotografin ist gekommen als sie beschließt, ein Fenster gegenüber zum zweiten Mal aufzunehmen, das später das Fenster wird.

Erstveröffentlichung in:
Renate Sautermeister, Das Fenster. Freiburg i.B. (modo) 2007

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