Heinz Schilling
Gedanken und Bilder zur Vorbereitung
auf das Seminar
Heimat und Heimatverlust
im Sommersemester 2013
Goethe-Universität Frankfurt U3L
Heimat? (K)ein einfaches Thema. Die Frage, wo Heimat war oder ist, wird allerseits mit Orts- oder Landschaftsnamen rasch beantwortet. Zu sagen, was Heimat bedeutet, setzt nicht selten Lebensgeschichten in Gang. Es gibt unzählige Erinnerungen an ungezählte individuelle Heimaten. Und viele ernstzunehmender Definitionen, die wiederum - quasi reflexartig - viele viele Varianten und Sonderfälle hervorrufen. So scheint Heimat als eine Art Idealtypus, der lediglich in Abweichungen vom Ideal existiert. Man kann durchaus, wie Kulturanthropologen dies tun, aus individuellen Ich-Heimaten und programmatischen, literarisch fixierten Wir-Heimaten das herauskristallisieren, was es bedeutet, Heimat zu haben. Hilfreich kann durchaus sein, das Thema "Heimat" vom Gegensatz her anzupacken: Was kann es bedeuten, Heimat nicht zu haben, d.h. wenn Heimat weggenommen, oder wenn auf Heimat - gezwungen oder freiwillig - verzichtet wird? Heimatverlust und Heimatverzicht zu reflektieren scheint tatsächlich ein Weg, das in die aktuelle "Landliebe"-Kulturstimmung auffällig hineinragende Heimat-Thema etwas besser zu fassen.
Bleiben oder gehen? Dem tief in individuelle Alltags- und kollektive Lebenswelten einschneidenden Ausbau des Frankfurter Flughafens schlägt zunehmend massiver Protest vieler von Lärm betroffener Bürger entgegen. Das Thema ist keine Eintagsfliege für Medien:
Heimatverlust kann bereits mit dem Wahrnehmen kleinster Veränderungen in der natürlichen oder gebauten Umwelt beginnen. Das Repertoire negativer Reaktionen reicht vom ironischen Kommentar bis zur Dämonisierung der Modernisierer. Ironie, Satire, Sarkasmus benötigen als kommunikative Strategien ihre Gegenüber. Der Schrifsteller Andreas Maier entzückt oder ärgert sein Publikum mit seinem Ärger über die Veränderungen seiner Heimatregion Wetterau, voran das tendenziell flächendeckende Modernisierungsbauwerk namens Umgehungsstraße. Oder ist Maiers Motiv eher die Trauer über eine Kindheitslandschaft, die es nicht mehr gibt?
Foto A. Maier: © Jürgen Bauer / Suhrkamp Verlag
Auf der Suche nach oft zitierten "romantischen" Wurzeln des so eigenen deutschen Heimatbegriffs stößt man am Ende des 18. Jahrhunderts auf den Roman Franz Sternbald Wanderungen von Ludwig Tieck. Der Titelheld verzichtet auf seine Heimat, im alten Wortsinn ist das der bäuerliche Besitz an Grund und Boden. Statt Hoferbe zu sein will er als Künstler in die Welt ziehen. Seine Heimat ist die Kunst.
Nach dem Tod des Vaters kommt es zu einer dramatischen Situation. In einem Gespräch will ihn die Mutter unbedingt zurückhalten. Ihr Argument: Die Heimat ist sicher, die Fremde ist schlecht. Warum soll Franz als Flüchtling ins Unglück gehen? Sie warnt ihn: Das wird dir noch einmal leid tun - wenn es zu spät ist. Doch der Sohn ist nicht umzustimmen...
Boat People. Refugees at the Chi Ma Wan camp in Hong Kong wait 1984 for an opportunity to be resettled in the West.
Photo with permission of the United Nations High Commissioner for Refugees and Canadian Museum of Civilization/Musée Canadien des Civilisations
Heimatvertriebene Flüchtlinge. Ende März 1946 kommen die ersten aus ihrer Heimat Konstantinsbad (CSR) vertriebenen Menschen mit Sack und Pack in Zellhausen an. Bis Jahresende werden insgesamt 300 Sudetendeutsche in dem kleinen hessischen Dorf untergebracht, zunächst in Gasthaussälen; im Volksmund heißen die Heimatvertrieben Flüchtlinge, so nennen sich auch selbst gegenüber den Ortsansässigen.
Foto: © Hubert Prichta
Theodor Kramer emigrierte 1939 als 25jähriger aus Österreich ins Exil nach England. Spät, 1957, kam er wieder zurück nach Wien. "Erst in der Heimat bin ich wirklich fremd", lautet - kurz vor seinem Tod 1958 - die resignierte Bilanz seiner Heimkehr. Von seinem lyrischen Werk ist nur ein kleiner Teil gedruckt. Wenn Passanten in der Fußgängerzone von Murnau vor dieser Tafel irritiert innehalten dann auch wegen der ironischen Kluft zwischen Theodor Kramers bitterem Satz und der Gestaltung durch den einheimischen Schnitzkünstler Josef Schranz.
Zur Auswanderung entschließen sich Menschen, wenn ihre Heimat die Lebensnotwendigkeiten nicht mehr erfüllt. Infolge von Naturkatastrophen, Mißernten und Teuerung wird dies besonders spürbar. Wenn sich die Gegebenheiten eines Raums nicht ändern lassen, dann verlassen wir diesen Raum - so scheint eine rationale Formel der Migration zu lauten - und suchen zufriedenstellende Existenzgrundlagen anderswo. Zwischen 1820 und 1900 wanderten mehr als neun Millionen Menschen aus Deutschland nach Übersee aus, neben Einzel- und Gruppenauswanderungen gibt es Fälle, da ganze Dörfer aus Notgebieten "nach Amerika" aufbrachen. Nicht selten werden unterprivilegierte Bevölkerungsteile von ihrer Heimatgemeinde zur Auswanderung gedrängt: Ortsarme, zu denen auch verurteilte Holzdiebe, Feldfrevler, Landstreicher, Trinker oder chronische Schuldenmacher gehören. Ein hessisches Dorf verfuhr so im Jahr 1846, als ein Zehntel der Bevölkerung - 15 Familien mit 51 Erwachsenen und 41 Kindern - sich aufmachen nach Amerika.
Wenn aus Heimat-Erinnerungen die Heimat Erinnerung wird. Viktor Kral zeichnet eine Landkarte aus dem Gedächtnis, markiert Stationen seines Lebens. Saratow an der Wolga war 1925 der Geburtsort. 1941 wurde Kral ins Altaigebirge verbannt, 1943 zur Zwangsarbeit in ein Bergwerk im Ural, 1947 an einen Ort in Kasachstan. Dann Umsiedlung in die Stadt N. an der Wolga. Schließlich Aussiedlung nach Deutschland, 1990. "Unsere eigentliche Heimat ist Hessen. Von da gingen wir [1766] als Kolonisten an die Wolga. Das war dann die Heimat." Ein Säckchen mit Heimaterde hatten sie mitgenommen, "bis heute von Generation zu Generation in Ehren gehalten. Nun sind wir wieder hier." 12. Oktober 1992. Wir sind in Birstein im Vogelsberg. Eigentlich aber sind wir mitten in Viktor Krals Erinnerung. Es ist ganz still. Der alte Mann deutet zum Fenster: "Und jetzt warte ich noch auf das". Er nimmt meinen fragenden Blick auf, öffnet das Fenster und weist zum Kirchturm hin: "Der Friedhof ist nicht weit von uns jetzt." Das wird die letzte Heimat sein (Feldtagebuch HS).
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Heimatphänomen wurde 1972 in Deutschland mit dem kulturanthropologischen Ansatz von Ina-Maria Greverus auf eine neue Grundlage gestellt. Eine Stimme aus den USA nennt die Untersuchung "a remarkable and ground-breaking study of the Heimat phenomenon". Eine solche Bewertung im Jahr 2002 illustriert, daß Greverus mit ihrem nahezu 500 Seiten umfassenden Buch über Heimat und Heimatbezogenheit auch in internationaler Wahrnehmung "bahnbrechend" war und Diskursgeschichte schrieb. Bis zur heutigen Diskussion von Heimatbewußtsein und Heimatverlust ist Der territoriale Mensch unverzichtbar geblieben. Wichtige Kapitel sind:
- Menschliche Territorialität als Forschungsgegenstand
- Muster literarischer Territoriumsbezogenheit und ihr Situationshintergrund: - Das "Fremde als Einbruch in ein Territorium - Das Fremdheitserlebnis und die Reflexion des eigenen Territoriums - Prospektive und retrospektivische Territoriumsbezogenheit [Erinnerung und nostalgische Reaktion] bei horizontaler Mobilität; - Auswanderung und Zeitwanderung; - Zwangswanderung und Internierung
- Heimatdichtung als Zeitphänomen: - Vom Vaterlandspreis zum Heimat- und Ortspreis - Einsamkeit, Identitätssuche und "Heimatdichtung"
- "Territorialer Imperativ" und kulturspezifische "Territorien" in ihrer Bedeutung für den Menschen.
Was zu lesen:
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