Dr. Heinz Schilling • Professor für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main

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Das absolute Hilfsmittel

Der Virtuelle Katalog der Universität Karlsruhe existiert seit 1996 und hat sich als eine unentbehrliche Instanz für mein wissenschaftliches Arbeiten erwiesen. Dieser Katalog verzeichnet die tatsächlichen Bestände von 13 großen deutschen Universitätsbibliotheken, regionalen Bibliotheksverbünden sowie der Deutschen Nationalbibliothek. In seiner Qualität ist er sehr viel verlässlicher als alle mir bekannten Nachweissyteme (inkl. Suchmaschinen).

Ferner greift http://www.ubka.uni-karlsruhe.de/kvk.html direkt auf 40 National- und Regionalbibliotheken weltweit zu, auf 7 Kataloge großer Buchhändler (darunter die wichtigsten Kataloge antquarischer Bücher) und registriert fortlaufend die Eintragungen in die 5 wichtigsten Nachweissysteme für E-Texte (von denen, mit etwas Glück, viele direkt auf den eigenen PC geladen werden können). Für die Literaturrecherche - Einstieg per Stichwort: Was gibt es bisher, was gibt es Neues zu meinem Thema? - und für die exakte Bibliografie von Titeln und Namen (ausgeschriebene Vornamen!) ist die Nutzung des Virtuellen Katalogs in Karlsruhe ideal. Erstausgaben fremdsprachiger Autoren kann man in ihren "heimischen" Nationalbibliotheken direkt überprüfen (Originaltitel!) und Editionspfaden verläßlich nachgehen; dies ist für Wirkungs- und Wissenschaftsgeschichten relevant.

Kaum ein Tag, an dem ich diesen phantastischen kostenlosen, arbeitszeitsparendenund vertrauenswürdigen Dienst der Uni Karlsruhe (vielen Dank dorthin!) nicht nutze. Zu Informationen über Geschichte des Virtuellen Katalogs kommt man über diesen Link: http://blog.bibliothek.kit.edu/kit_bib_news/?p=1844.




Ein problematisches Hilfsmittel

Das "Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens" (HdA) ist das zwischen 1927 und 1942 publizierte zehnbändige Werk des Schweizer Volkskundlers Hanns Bächthold-Stäubli und seines Landsmanns, des Germanisten Eduard Hoffmann-Krayer. Es stellt mit über 33.000 Spalten im Lexikonformat den Versuch dar, einem damals kulturwissenschaftlich gewonnenen Kenntnisstand eine ezyklopädisch organisierte Plattform zwischen "Aal" und "Zypresse" zu geben. Sie reicht allerdings über den - unzureichend definierten - Begriff "Aberglauben" hinaus und erstreckt sich in populärkulturelle Bedeutungs- und Handlungsfelder hinein, deren superstitiöse Genese heute nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist. Ein wachsendes, zugleich heute zunehmend gern ignoriertes Problem ergibt sich aus der journalistischen Auswertung, oft auch der historisch wie räumlich dekontextualisierten Ausbeutung des im HdA präsentierten Meta-Wissens, wenn es - selbstverständlich ohne Herkunftsbezeichnung - aktualisiert und sensationalisiert wird. Kalendarische Fälligkeiten kennt jeder Volkskundler, wenn der boulevardisierte Medienbetrieb Brauchtumsmarken wie "Freitag der 13." oder "Silvester" anpeilt und flink Expertenstatements einsammeln möchte. Hinweise auf Risiken und Nebenwirkungen des HdA-Gebrauchs, dem Freien Mitarbeiter aufgetragen, fallen beim Auflegen des Telefons flink unter den Redaktionstisch.


Das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (HDA) liegt seit 1987 als als faksimilierte Ausgabe in 10 Bänden (inkl. Nachträge und Register) des Verlags de Gruyter vor. Dem Artikel Alraun sind im 1. Band des HDA 13 Spalten gewidmet. Illustrationen gibt es im HDA nicht. Das Bild stammt indes aus dem Hortus Sanitatis, dem Kräuterbuch des Frankfurter Stadtarztes Joh. Wonnecke von Kaub, das zuerst als Inkunabel 1485 gedruckt und später öfter und an verschiedenen Orten verlegt wurde. Der mit Holzschnitten reich versehene "Gart der Gesuntheit" ist neuerdings auch digitalisiert im Netz erreichbar.

Ein Risiko beim heutigen Gebrauch des HdA durch googlegewohnte User ist sein nachhaltiger ethnografischer Präsens, Beispiel: "Wenn man am Gründonnerstag feiert, so hat man das ganze Jahr kein Fieber. Ebenso wenn man fastet. … In Ungarn kochen die Mädchen Speckknödel ... In der Oberpfalz gilt das Gründonnerstagsei schon in der Henne als geweiht …" (HdA, Artikel Gründonnerstag). Die Originalausgabe des HdA wurde seit 1973 mehrfach nachgedruckt; der Reprint von 1987 enthält - geschrieben aus einem Abstand von sechs Jahrzehnten - eine wissenschaftsgeschichtlich umsichtige wie auch notwendig kritische Einleitung des Volkskundlers Christoph Daxelmüller (heute Universität Würzburg). Altes Wissen in einer umfangreichen Wissenskompilation mit einem (sprachlich) ehernen Geltungstimbre, das vielleicht auch einem volkskundlichen Bewahrungs- oder Rettungsgedanken geschuldet ist, hervorgebracht in einer Epoche forciertester Modernisierung. So stellt sich mir das Handwörterbuch des deutsch(sprachig)en Aberglaubens dar. Auf Dauer bleibt bleibt ein Zettelkasten mit einer stupenden Füllung. Ihm verdanken wir keinen theoretischen Wurf vergleichbar dem Arnold van Genneps, der seine Rites de passage aus dem Fundus der gesamten ethnografischen Literatur entwickelt hat, wie sie - in seinem Fall - zu Anfang des 20. Jahrhunderts in der Bibliothèque nationale zu Paris vorhanden war. Und dennoch: Ich möchte auf dieses Hilfsmittel HdA nicht verzichten. Es ermöglicht Einblicke in Bedeutungstraditionen und regionale Forschungskulturen, in eine - grosso modo - in ihrem Kern beständig vorindustrielle Welt. Und reißt so Horizonte in die Vergangenheit auf.




Ein einzigartiger Kulturbesitz

Als Schüler habe ich in den Ferien gelegentlich in einem Zeitungsarchiv gearbeitet und zum eisengrauen Bild von "Archiv" (alt, vergammelt, Staub von den Akten blasen) ein Gegenbild kennengelernt: Im Archiv des Verlagshauses lief Tag und Nacht ein Fernschreiber mit, auch Ticker genannt, aus dem meterlange Papierbänder der Nachrichtenagenturen (dpa, ap, upi, afp, reuters) rauskamen. Das Spezielle daran: Der Archivleiter Enno Jochums aktivierte unmittelbar nach Eingang einer Meldung seine Archivbestände, holte, wenn "flugzeugabsturz ... bogotá... 87 tote" aus dem Ticker quoll, das Dossier "Flugzeugabstürze Südamerika" aus den Archivregalen und schickte es per Rohrpost hoch an die Redaktionen (natürlich befand sich das Archiv im Keller), heißt: Die Redakteure hatten das Basis-Hintergrund-Statistikmaterial Stunden bevor entsprechender dpa-Stoff eintraf. Parallel zu den Textdossiers hatte Jochums ein exzellentes Bildarchiv aufgebaut. In dem Verlagshaus erschienen ein Regionalblatt sowie eine wegen ihres Feuilletons hoch angesehene (!) Abendzeitung. Eine dritte Archivsäule waren die gesammelten Bände der Regionalzeitung, die stolz war auf ihren Ursprung im Jahr 1773, sowie die Konvolute der Abendzeitung (ab 1948).
Das war noch mitten in der Papierzeit. Wohin verlaufe ich mich jetzt auf dem Weg zum Stichwort "Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm"?
Bevor ich dort ankomme noch ein kleiner Halt im Jahr 1975. Es fand der 50. Deutsche Archivtag statt, und da ich mit diversen Archiven im Lauf meines Studiums, nicht selten - inzwischen wusste ich: wegen der Statik - in Kellern, nur gute Erfahrungen gemacht und gerade ein Buch mit dem Titel "Herrschen die Computer?" herausgegeben hatte, übernahm ich als Kulturredakteur die Berichterstattung über diesen Kongress. Es ging erstmals um "Die Archive im Rahmen des Informationswesens. Die EDV im Dienst der Archivarbeit und Forschung".
Thema also, noch auf Deutsch, Elektronische Datenverarbeitung. Eine Woche lang tat sich für viele eine Welt auf. Ich erlebte altgediente Archivare und Bibliothekare, wie sie zwischen Neugierde und Skepsis ein Wort wie Retrievalfunktion aufnotierten; aber auch junge Historiker und Journalisten, die sich mit großen Augen und roten Backen über Einsatzmöglichkeiten der EDV in ihren eigenen Arbeitsfeldern schlau machen wollten oder bereits mitten in der "Umstellung auf EDV" ihrer Sammlungen steckten.

Nun aber zum Grimmschen Wörterbuch:
In meinen Studienjahren bin ich immer wieder einmal in den geisteswissenschaftlichen Lesesaal der Frankfurter Unibibliothek gegangen, um ein Wort nachzuschlagen - im umfangreichsten Wörterbuch der deutschen Sprache. Seine Editionsgeschichte reicht von 1838 bis 1971. Dann waren 33 Bände komplett, das Wissen über nahezu 300.000 (Stich)Worte aus 4.000 ausgewerteten, zitatbelegten Quellen lag gedruckt vor. Der nächste Schritt seiner allgemeinen Benutzbarkeit kam 1984 (dtv-Paperbackausgabe), eine weitere wichtige Etappe begann 1998, als die Deutsche Forschungsgemeinschaft ein Projekt zur Retro-Digitalisierung des DWB an der Universität Trier förderte. Das bedeutet, daß das gedruckte vielbändige Werk über die spezielle Software SGML/XML maschinenlesbar gemacht wurde und ab 2004 auch per Mausklick im Internet greifbar ist. Die Netzadresse lautet: http://www.dwb.uni-trier.de/.

Die Stichworte reichen von "aa, f. einsilbig auszusprechen, name vieler flüsse und bäche in der Schweiz, in Westfalen und anderwärts, suffix vieler flusz- und ortsnamen..." bis "zypressenzweig, m.: ... zeichen grosser traurigkeit."

Zur Illustration ein kulturanthropologisches Stichwort (Ausschnitt):


Das Deutsche Wörterbuch (DWB), initiiert 1838 von Jacob und Wilhelm Grimm, ist seit 2003 komplett im Netz verfügbar. Interessant ist die Ursprungsphilosophie dieses "einzigartigen Kulturbesitzes der deutschen Sprache", darüber kann man lesen in den Vorworten der Brüder Grimm, die nicht nur Märchensammler waren ...
Das DWB ist eine Fundgrube zur Ermittlung von Wortherkünften, der etymologische Gebrauchswert ist allerdings zeitgebunden. Ähnliches gilt für das DWB als "Zitatenschatz"; griffiger ist das Spruchwörterbuch des F.v. Lipperheide (1907).


Die Benutzbarkeit (Zitierbarkeit, URL-Verknüpfbarkeit) des DWB ist netzseitig hervorragend organisiert. Es braucht allerdings ein wenig Zeit zur Einübung in die Grimmsche Originalorthografie.




Neuer Auftritt eines alten Riesen

Zedlers "Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste" erschien von 1732 bis 1750 in 64 dicken Foliobänden (ca. 35 cm Höhe). Zusammen mit vier Supplementen lag damit Mitte des 18. Jahrhunderts ein einzigartiges Nachschlagewerk mit insgesamt 67.000 Seiten in deutscher Sprache vor. Johann Heinrich Zedler (1706-1763) war kein Gelehrter, sondern risikofreudiger Geschäftsmann, der das Wissensbedürfnis seiner Zeit - der Epoche der Aufklärung - als Buchhändler und Verleger bediente und ökonomisch auswertete.



"Der Zedler" hat seinen Platz auch in der nunmehr digitalisierten Ruhmeshalle großer Nachschlagewerke bekommen: www.zedler-lexikon.de. Nicht wenige Namen, Begriffe, Stichworte haben nach 250 Jahren ihre Relevanz verloren, ihre Bedeutung geändert, Artikel haben an Erklärungskraft eingebüßt, sind Teil der europäischen Wissensgeschichte. Viele Lemmata sind heute aus normalen Lexika verschwunden. Gewöhnungsbedürftig dürfte die Typografie sein. Die Suche ist kinderleicht, neben Einzel-Stichworten sind auch ganze Personen- (Berufe, Stände usw.) und Sachkategorien (Geografie, Handwerk, Religion, Kunst usw.) auffindbar; hilfreich ist auch die Suche nach Verweisen: das betreffende Wort findet sich in anderen Artikeln.


Die eigentliche lexikografische Arbeit besorgten Historiker wie J.P. v. Ludewig oder C.G. Ludovici, "Professor der Weltweisheit". Das Werk wurde in Halle und Leipzig gedruckt und, bis heute nur nach seinem Verleger ("der Zedler") zitiert; ihm "gebührt in der Ruhmeshalle historischer Nachschlagewerke" einen Sonderplatz inne, so der Lexikonexperte Werner Lenz. Allerdings kann "der Zedler" nicht den Weltruhm der "Encyclopédie" von Diderot und d'Alembert beanspruchen, die ihren "Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et Métiers" 1751 starteten, der bis 1777 mit insgesamt 22 Bänden vorlag. Dem "Zedler" fehlt offenbar der intellektuelle Glanz insbesondere dreier Aufklärer, die zu den Autoren der französischen "Encyclopédie" gehörten - Montesquieu, Rousseau und Voltaire.
Diese allerdings hätten mir nicht weitergeholfen, als ich meine erste große akademische Arbeit über einen protestantischen Sensationskompilator des 16. Jahrhunderts schrieb. Gleichwohl war der "Zedler" einer meiner ersten Zugänge zur Biografie meines Jobus Fincelius, eines Mannes aus Luthers Umkreis, der einer der wirkmächtigsten Propagandisten des Reformators war. Auch der "Zedler" stand - mehrere eindrucksvolle Meter - in der Frankfurter Universitätsbibliothek: Das versammelte Wissen der Zeit vor 200 Jahren in 68 pergamentgebundenen Bänden. Die erste Begegnung mit dem alten Riesen: HS findet 1967 im "Zedler" einige Zeilen über einen Kompilator des 16. Jahrhunderts. Kenner der frühen Massenliteraturproduktion waren bislang davon ausgegangen, über ihn sei nichts bekannt. Das Universal-Lexicon öffnete mir nun aber ein kleines Fenster:

Fincelius, (Joan.) ein Doctor Medicinae von Wei-
mar, lebte im 16. Seculo, und war Anfangs Professor
Philosophiae zu Jena, hernach Stadt-Physicus in sei-
ner Geburts-Stadt, endlich aber Medicus bey der
Stadt Zwickau, allwo er sein Leben beschlossen. Er
hat ein Buch von Wunderzeichen hinterlassen.
Zenneri Vit. Prof. Jen.


Ein kleines Fenster waren immerhin diese sieben Zeilen über meinen Autor im 9. Band des "Zedler". Bei der rasanten Produktionsgeschwindigkeit des Zedlerschen Lexikons war der falsche Vorname (Johannes statt Jobus) vielleicht nicht allzu gravierend, auch dem Verweis "Zenneri Vit. Prof. Jen." war nicht sofort zu folgen. Das Buch über die Vitae Professorum Theologiae Iurisprudentiae Medicinae Et Philosophiae Qui In Illustri Academia Ienensi Ab Ipsius Fundatione Ad Nostra Usque Tempora Vixerunt Et Adhuc Vivunt stammte, wie sich endlich herausstellte, nicht von einem Zenner sondern von Johann Caspar Zeumer. Und nachdem ich dessen Band von 1611 dann in der Hand hielt nahm die Recherche richtig Fahrt auf.

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