Dr. Heinz Schilling • Professor für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main

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Heinz Schilling:
Der Augen Blick

Als früher Völkerkundler von ihren Forschungsreisen heimkamen erzählten sie oft, daß die sogenannten Primitiven auf Neuguinea oder die Wilden am Amazonas sich weigerten, sich fotografieren zu lassen. Sie hatten Angst, der Fotograf nehme ihnen mit seinem Apparat ihre Seele weg.

Auf diese Angst sind Andrea Güthge und Karin Schilling in Schöneck wahrscheinlich nicht gestoßen, als sie die 25 männlichen und die 27 weiblichen Mitbürger fotografierten, ablichteten, aufnahmen.

In der Tat hat das Fotografieren ja etwas Besitzergreifendes. Wir in Deutschland, wir nehmen auf (ein Foto), in England heißt das to take (a photograph), in Frankreich prendre (une photo). Nehmen also.

Nehmen und machen: Ein Foto machen. Sich ein Bild machen.

Für Portraits gibt es das alte Wort Konterfei; es ist am Aussterben in Zeiten der Facebook-Kultur. Konterfei, lateinisch contra factum, das Gegengemachte, das dem tatsächlichen Gesicht entgegengemachte Gesicht als Bild von einem Gesicht. Und der Fotografierte steht demjenigen gegen-über, der das Foto macht. Ist der Fotograf so etwas wie eine Gegenmacht?

In unserem Fall stellen sich die Fotografierten nicht auf einem Sportplatz oder vor dem Rathaus zum Gruppenfoto auf, sondern zwischen einer Schulwand und einem Bilderrahmen, in den sie sich einzeln einpassen, anders noch gesagt: Sie stellen sich der Fotografin. Sie stellen sich in Positur. Sie posieren. Werfen sie sich in Pose?

Ich benutze den Ausdruck "Pose" keineswegs abwertend, im Gegenteil, es gibt vielleicht sogar so etwas wie die Kompetenz der Pose: Die Pose des Fotografierten ist die aktive Antwort auf das Aufgenommen-werden. Wenn je dem Fotografierten etwas abgenommen werden sollte, sein Konterfei "abgenommen" wie den Eingeborenen die Seele, wie sie meinten, wenn das so wäre, dann setzt der Fotografierte mit seiner Pose dem technischen Auge des Fotografen — seiner Kamera also — etwas entgegen. Er ist dem Fotografierapparat nicht einfach ausgeliefert, er bekommt nicht nur etwas abgenommen sondern er hat etwas von sich aus zu geben. Gestaltet seinen Gesichtsausdruck, wie es ihm oder ihr gefällt. Das macht er der Linse entgegen, und so mag er der Fotografin und damit der Welt — hier ist es die lokale Welt der Ortsbevölkerung — etwas vormachen. Man kann ja auch dem sogenannten Fotografiergesicht trotzen, dem "Cheese"-Gesicht nach dem Kommando "Bitte recht freundlich"; es gibt diverse Möglichkeiten, wie wir gleich sehen werden.

Einige machen der Welt vor, wie sie sich selbst sehen und wie sie gesehen werden wollen. Sie wissen nicht was ich meine? Dann betrachten Sie mal sich selbst und andere vor dem Spiegel bei Peek und Cloppenburg. Ein Spiel mit dem, wie wir sind und wie wir sein wollen. Und oft auch wie wir uns fühlen.

Zur Pose gehört eigentlich der ganze Körper, die Körperhaltung. Zwischen Aufdemsprungsein und Sichhängenlassen.

Aber wie einzelne Körperteile ihre eigene Sprache sprechen — die Sprache der Hände beispielsweise — so fließt sehr vieles von Haltung und Persönlichkeit in Kopf und Gesicht zusammen.

Über Körpersprache könnte man viel sagen, doch wir konzentrieren uns jetzt, wie das diesen Bilder hier auch tun, auf das Gesicht. Und da noch einmal: auf den Blick.

Sie werden diese Portraits wahrscheinlich zunächst nach dem Muster befragen: Kenn ich die? wer ist denn der da? Sie werden sicherlich einige Entdeckungen machen und eine neuartige Erfahrung mit nach Hause bringen, ein halbes Prozent der Schönecker Bevölkerung — Ihnen persönlich bekannt oder unbekannt — mal auf diese Weise betrachtet zu haben.

Das Signal, das jedes dieser Portraits aussendet, ist das Signal der Augen: Sieh mal wie der guckt? kann man sich vor jedem Bild fragen.

Ja, was sind das für Blicke?

Nein, sie sind keineswegs alle gleich wie der Rahmen und die Steine, die gewissermaßen die Standardsituationfür alle darstellen. So wie auch das Stilmittel der Schwarzweißaufnahme in einer Welt, die so quietschbunt ist, daß man sie doch öfter mal etwas weniger schrill haben will. Aber fast jeder macht etwas anderes aus dieser Standardsituation.

Man kann diese Portraits einfach auch mit einer vielleicht ungewöhnlichen Fragestellung betrachten. So, wie die Dargestellten als einzelne Facetten eines großen Bildes Schöneck angesehen werden können, so könnte man Haltungen, Ausstrahlungen, "Blicke" in den Gesichtern als Facetten menschlicher Ausdrucksmöglichkeiten überhaupt wahrnehmen.

Finden Sie also Gesichter mit dem freundlich zugewandten Blick, dem offenen Blick, dem strahlenden Blick. Sowas läßt sich ganz gut unterscheiden.

Vielleicht haben Sie den Eindruck: Das ist einer mit einem schelmischen Blick, mit einem schlitzohrigen Blick, und der da hat den Schalk im Nacken.

Das wiederum, mögen Sie denken, ist ein Gesicht mit überlegenden und das mit einem überlegenen Blick. Oder hier das, das ist durchaus der weltgewandte, welterschließende, ja welterobernde Blick.

Sie treffen auf den ironischen Blick — oder trifft dieser Blick Sie? Einen anderen schätzen sie als saturierten Blick ein, als prüfenden Blick oder Sie denken: Naja, das ist einer mit einem irgendwie professionell eingefrorenen Blick, der ist öfter schon fotografiert worden.

Daneben hängt vielleicht wieder einer mit dem selbstbewußt sicheren Blick oder dem zukunftsoffenen Blick, leicht zu verwechseln mit dem fundamentalen Strahlemannblick, der nun eher kein süßer Blick ist, den es ja unbedingt auch gibt, hier in dieser Kollektion.

So wie den jovialen Blick. Oder den — schon deutlich anders — amtlichen Blick, leidenschaftslose Freundlichkeit ausstrahlend.

Es gibt allerdings auch eindeutig dialogische — ein Gespräch erwartende oder anbietende — Blicke, die wir entdecken können, den fragenden Blick etwa, wo jemand mit den Augen sagt: Was habt ihr mit mir vor? Oder jemand anderer scheint zu fragen: Soll es so sein? Soll ich so gucken? Ein wieder anderer fackelt nicht lange: Da habt ihr mich! Jetzt drückt endlich drauf.

Ein Portrait ist mir aufgefallen, als stünde es einem auf der Stirn geschrieben, und der Mann scheint zu sagen: Ja, dahinter — hinter meiner Stirn — gibt es so einige Hinter-Gedanken, aber: Welche Gedanken? Die verrat ich nicht.

Wenn Sie den gefunden haben, dann sehen Sie im mal drei Minuten in die Augen und warten Sie ab, was er vielleicht doch sagt.

So dauert der Augenblick möglicherweise doch länger als einen Augen-Blick.

Viele Gesichter, die Fröhlichkeit ausstrahlen sind in dieser Ausstellung, eine selbstbewußte Fröhlichkeit, die vielleicht auch etwas mit der Lockerheit oder Gelöstheit der Situation des Fotografiertwerdens dann zu tun haben mag. Freude ist in manchem Gesicht, von manchem Konterfei abzulesen, Wohlwollen, Souveränität, Altersweisheit und — wenn es nicht zu pathetisch klingt — Würde. Aber auch Spannung, Skepsis, vielleicht hie und da Resignation, die im Gesamtbild von dem Ausdruck der Verschmitztheit konterkariert werden.

Es kann durchaus sein, daß man im bekannten Gesicht auch unbekannte Züge finden mag.

Lassen Sie mich schließen mit einer Idee, wie man diese Ausstellung zu etwas eigenem machen kann:

Man sollte sich Zeit nehmen und Ruhe mitbringen und ruhig ein zweites oder drittes Mal hierherkommen. Jedes dieser Portraits lohnt eine eigene Betrachtung. Und jedes Gesicht, jeder Blick hat es verdient, daß man sich hineinvertieft. Die Frage nicht weniger Fotografierter "Warum ich?" wird dann von den Besuchern beantwortet, die in den Gesichtern und Blicken etwas Eigenes entdecken, sich diese Gesichter und die Eindrücke von den Menschen, die sie zeigen, zu etwas eigenem machen.

Das ist dann eine Verlängerung der Achse vom dargestellten Menschen — durch den Rahmen — durch die Linse der Kamera — zur Fotografin — bis hin zum jetzigen Betrachter: Wenn sich der Blick des Dargestellten mit Ihrem Blick trifft.

Zur Eröffnung der Ausstellung "Bekannt — unbekannt. Gesichter in Schöneck" 2006

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