Dr. Heinz Schilling • Professor für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main

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Heinz Schilling:
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Das Dorf als Mikrokosmos des kulturellen Wandels und als Chance, ihn wissenschaftlich zu erforschen



Meilensteine kulturwissenschaftlicher Dorfforschung: Mardorf nahe Marburg (Mathilde Hain), Roussillon in der Vaucluse (Laurence Wylie), Kiebingen nahe Tübingen (Utz Jeggle, Albert Ilien). Kein Meilen-, nur ein Kieselstein der Forschung ist Eichen, Ort einer HS-Recherche in der Region Rhein-Main.


I.

Der Vortrag folgt drei Darstellungslinien. Er erinnert zunächst an einen traditionellen Modus der Integration von Fremden in dörfliche und kleinstädtische Lebenswelten. Zentral dafür sind einerseits die Erwartung, sozial angenommen zu werden und zu einer lokalen Gemeinschaft "dazuzugehören", andererseits die Forderung nach Ein- und Anpassung des Ankommenden an die Regeln des örtlichen Zusammenlebens. Wenn in zu kurzer Zeit zu viele Fremde zuwandern, gerät das bisherige Modell dieser sozialen Dynamik in Frage: Wer hat sich in wen zu integrieren? Dafür werden Beispiele aus der jüngeren deutschen Vergangenheit (1950er, 1970er Jahre) skizziert. Zuwanderer nach Deutschland seit den "Gastarbeiter"-Zeiten stellen die herkömmliche Integrationspraxis deutlich fundamentaler in Frage, da diese Migranten kulturell anders geprägt sind, als die bisher genannten Zuzügler. Entscheidend - so meine These - ist hierbei jedoch nicht die Unterschiedlichkeit von Kulturen, sondern von kulturellen Verarbeitungsformen von Fremdsein. Fremdheit im Moment des Aufeinandertreffens bezeichnet eine Differenz, die oft genug, da angstbesetzt, nicht produktiv genutzt wird. Die aktuelle Integrationsdebatte scheint noch kaum zu der Frage vorgestoßen, wie sich Migranten in eine deutsche Gesellschaft integrieren sollen, die in hohem Maße sich als individualisiert, segregiert, inhomogen - mit einem Wort: in sich selbst nicht integriert - zeigt. Die Frage wird gestellt, ob statt des Begriffs Integration das Wort Partizipation benutzt werden sollte. Integration erscheint dabei als Obligation, als ein Gebot; Partizipation als optionale Kategorie, als ein Angebot der Gesellschaft. Schließlich formuliere ich die These, wonach die aktuelle deutsche Integrationsdebatte als einer der essentiellen Aspekte dessen zu sehen ist, wie Globalisierung bei uns ankommt.

II.

Ein zweites - sich einmischendes - Thema widmet sich der kulturwissenschaftlichen Dorfforschung anhand von drei signifikanten Beispielen: Die Untersuchungen Mathilde Hains in den 1930er Jahren in Mardorf (Hessen); die Feldforschung des Amerikaners Laurence Wylie in einem Dorf der südfranzösischen Landschaft Vaucluse (1950er Jahre); die Forschungen von Utz Jeggle und Albert Ilien u.a. in Kiebingen (1970er Jahre) - drei Meilensteine der wissenschaftlichen Beschäftigung mit "Dorfkultur".

III.

Ein drittes Thema ergibt sich aus dem ersten. Die eingangs geschilderten Migrationsphasen werden als Ausgangspunkt für einen neuen Ansatz zur Dorfforschung gesehen. Die Adressaten für zwei "Aufrufe" zum Handeln sitzen mir als Vortragspublikum der Tagung eines Zentrums für Regionalgeschichte gegenüber. Ich möchte die Zuhörer ermuntern, aktuelle Themen aufzugreifen und sich dezidiert mit Prozessen eines "laufenden" Kulturwandels in Dörfern und Kleinstädten auseinanderzusetzen. Es ist durchaus möglich und sinnvoll, dass auch Lokalhistoriker und Heimatforscher Feldforschung betreiben, z.B. biografische Interviews mit Migranten durchführen, und sich Fragestellungen widmen, von denen sie quasi umgeben sind: einmal ist das die - noch keineswegs beendete, historisch "ungesicherte" - Migrationsgeschichte an ihren Orten; zum anderen lokale Jubiläums- und Vereinsfeste als exemplarische Fälle des dörflichen Kulturwandels.


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