Dr. Heinz Schilling • Professor für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main

|Aktuelles|Neues|




Aktuell: 4. Jan 2022

Themenplan: U3 L Wintersemester 21/22: Kultur (an) der Grenze

Datum Thema / Inhalt
#
Oktober 2021  
21.
Empirische Forschung – Forschendes Lernen der Kulturanthropologie. Beispiel: Das Frankfurter Saarland-Lothringen-Projekt
1
28.
Alfred Gulden, Film: „Grenzfall Leidingen“
Alfred Guldens Roman „Die Leidinger Hochzeit“
2
November 2021  
4.
Das Frankfurter Forschungungsprojekt „Nachbarn an Hessens Grenze“ – Das Peripherie-Projekt
Grenzen der Kindheit
3
18.
Grenze und Abgrenzungen
- Frankfurt – Offenbach
- Mainz – Wiesbaden
4
25.
Not in my Backyard! (Nimby 1)
Unwillkommene Nachbarschaft 1: Frankfurter Dichterviertel
5
Dezember 2021  
2.
Not in my Backyard! (Nimby 2)
Unwillkommene Nachbarschaft 2: New York, Forest Hills
6
9.
Fenster sind Grenzen
7
16.
Grenzen einer Insel: Anthony P.: Cohens Klassiker „Whalsay, Symbol, Segments and Boundary in an Shetland Island Community
8
Januar 2022  
13.
Zum neuen Jahr. Zeitgrenzen und Übergangsrituale
9
20.
Die deutsch-deutsche Grenze: Peter Schneider: „Der Mauerspringer“; Hermann Kant, „Eine Übertretung“; Landolf Scherzer, „Der Grenzgänger“
10
27.
„Rückruf“
- Josef Reindl -„Wackes und Boches“ Das „französische Virus“
- Rietzschel Görlitz-Tagebuch
- SR-Corona-Grenzen Radiofeature, Transkript
11
Februar 2022  
3.
„Grenz-Ökonomie“ – Schmuggel (Dieter Haller: „Gelebte Grenze Gibraltar“; „Der Schwärzer“ (in „Gartenlaube“)
12
10.
Versuch einer Bilanz
13

- Änderungen vorbehalten -

 







Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe U3L-Studierende !


Bitte beachten Sie: Die nachfolgende kleine Vorschau ist noch kein endgültiges Semesterprogramm. Sie soll einen kurzen Blick bieten auf einige besonders interessante Themenbereiche und Einzelaspekte der Vorlesung.





1 Eine Grenze gilt
gemeinhin als Markierungs- und Durchsetzungsinstrument staatlicher Souveränität in einem – meist marginalen – Raum.
Wenn sich die Vorlesung dem Thema Grenze speziell aus kulturanthropologischer Sicht widmet, dann behandeln wir die Frage, wie Menschen mit der Grenze leben und ob – nicht zu vergessen – die Grenze für das je individuelle, „persönliche“ Leben relevant ist. Diese „gelebte Grenze“ soll in lokaler, regionaler und nationaler Dimension betrachtet werden.

2 Im Zentrum des Interesses
  • stehen das „normale“ alltagsweltliche Wahrnehmen und Handhaben – der „Umgang“ mit Grenzen;
  • die grenzüberschreitende Kommunikation mit Nachbarn jenseits der Grenze und
  • die emotionalen Beziehungen von Menschen zu ihrem Lebensraum („Heimat am Rand vom Land“).

3 Die trans-/internationale Dimension

soll nicht unbeachtet bleiben: Gibt es neben einem (je angenommenen) seitenspezifischen auch ein grenzüberschreitendes Wir mit einer gemeinsamen Kontaktkultur? Oder nimmt heute politisch gewollter separatistischer Eigensinn gerade in Europa weiter zu?

Bilder: Schlagzeilen im Jahr 2020

4 Kultur

Kultur der Grenze deutet auf etwas Statisches hin, als handle es sich um eine Linie auf der Landkarte, primär um staatliches Handeln zur Wahrung der eigenen territorialen Souveränität. Kultur sei eine Art Container (mit Objekten, Artefakten, Traditionen usw.).
Kultur an der Grenze hingegen deutet auf Kultur als einen dynamischen Prozess, der nie abgeschlossen ist.

Bild links: © Stephanie Lunau / Bild rechts: Mental Map (undatiert)

5 Feldforschung: Recherche an Ort und Stelle

Das Material zu dieser Vorlesung beruht i.d.R. auf Ergebnissen dokumentierter wie auch öffentlich diskutierbarer ethnologischer Feldforschung.
Empirische Forschung zum Thema Grenze geschieht vor allem in konkreten Regionen und an konkreten Orten, z.B. der deutsch-französischen, der österreichisch-slowenischen Grenze, der Grenze von Großbritannien (Gibraltar!) und Spanien. Zwischen Hessen und allen sechs benachbarten deutschen Bundesländern, z.B. auch in Wiesbaden und Mainz. Diese Recherchen wurden durchgeführt in insgesamt 18 Gemeinden jeweils dies- und jenseits der Landesgrenze.
All diese Zugänge können als exemplarisch betrachtet werden. Forschung trifft keine dogmatischen Aussagen, sondern versucht, beispielhaft so etwas wie den „Charakter“ und das „Wesen“ von Grenze überhaupt herauszufinden, wie es die jeweils gelebte Grenze zu einer bestimmten Zeit mit ihren je ortsspezifischen Bedingungen und Menschen zu erkennen gibt. Empirische Forschung beansprucht keine statistische Repräsentativität. Erfahrungswissenschaftliche Instrumente sind v.a. Interview und Beobachtung sowie eine kritische Sensibilität bei der Interpretation des Materials. Letzteres hat den Anspruch, nicht zu Theorien zu führen, sondern zu neuem Fragen.

Bild rechts: Karte der im kulturanthropologischen PERIPHERIE-Projekt untersuchten Orten an der Grenze Hessens

6 Ausgewählte Forschungsberichte

Hier seien einige ausgewählte Forschungsdokumentationen genannt, die in der Vorlesung referiert werden sollen:
  • Heinz Schilling: Leben an der Grenze. Recherchen in der Region Saarland/Lorraine. Frankfurt 1986
  • Johannes Moser und Elisabeth Katschnig-Fasch: Blatten. Ein Dorf an der Grenze. Graz 1992
  • Dieter Haller: Gelebte Grenze Gibraltar. Transnationalismus, Lokalität und Identität in kulturanthropologischer Perspektive. Wiesbaden 2000
  • Heinz Schilling: Peripherie. Lokale Identitäten und räumliche Orientierung an der Grenze. Frankfurt 2000

7 Einzelaspekte der Vorlesung (vorläufige Auswahl)

Leben an der Grenze
Beispiel Saarland/Lorraine; Österreich/Slowenien; Hessen/angrenzende Bundesländer)

Provinz, Peripherie und Niemandsland
oder: Was haben John Lennon und Paul McCartney mit dem „Nowhere Man“ gemeint?

Insel ist Grenze an und für sich
Textauswahl aus Milena Sunnus „Öland. Lebenswelt und Konstruktion kultureller Identität auf einer schwedischen Ostseeinsel“ sowie Beispiele aus dem Forschungsbericht „Auf Inseln Leben. Rügen und Usedom“, herausgegeben von Ina-Maria Greverus

Die deutsch-deutsche Grenze
Mit Texten von

  • Horst Krüger (Reiseberichte „Ostwest-Passagen“)
  • Hermann Kant (Erzählung „Eine Übertretung“)
  • Peter Schneider (Roman „Der Mauerspringer“)
  • Landolf Scherzer („Der Grenz-Gänger“, Nach-Wende-Reportagen)
  • Renate Weismüller: „Leben mit der Grenze. Strategien alltagsweltlichen Handelns in einem Dorf im DDR-Sperrgebiet“. Kulturanthropologische Magisterarbeit 1991

 

Leidingen
Mitten auf der Dorfstraße verläuft die Staatsgrenze Deutschland-Frankreich.
Unser Gast in Frankfurt wird Alfred Gulden sein, Schriftsteller und Poet mit der Kamera, Autor des Romans u.a. „Die Leidinger Hochzeit“, des Dokumentarfilms „Grenzfall Leidingen“ und zahlreicher Veröffentlichungen, u.a. „Nur auf der Grenze bin ich zu Hause“

Ein Leben an der Grenze
Maria Theobald ist in ihrem langen Leben niemals umgezogen, doch hat sie mehrmals ihre Staatsangehörigkeit gewechselt. Wie war das?
Sie hat immer an der Grenze gelebt. Ihr Geburtsort Leidingen, wo sie 2011 hochbetagt starb, hat im Lauf der Geschichte mal zu dieser, mal zu jener Seite gehört; insgesamt siebenmal in den vergangenen zwei Jahrhunderten. Es war entweder deutsch oder französisch, und mit dem Dorf waren es seine Menschen. Die einen beteten zum Heiligen Remigius, die anderen zu Jeanne dÀrc, der französischen Nationalheiligen. Jede Seite hat ihre eigene Kirche und ihren eigenen Friedhof. Heute noch.
Die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich verläuft mitten auf der Dorfstraße, die heißt einerseits Neutrale Straße, andererseits Rue de la Frontière. Von Paris aus gesehen ist man in der Gegend, wo laut Germaine de Staël 1803, „Frankreich verschwindet“.
Maria Theobald wird als Deutsche geboren und wächst als Französin auf, heiratet als Deutsche und wird als Französin Witwe; ihr Grab ist auf dem Friedhof in Leiding – Annexe de Heining-les-Bouzonville. Auf die Frage des Reporters nach „Europa“: "Was würde sich ändern, wenn die Grenze da weg wäre?" hat sie gestutzt: "Tja, wo kämen wir denn da hin?“

Bild links: Anna Theoald: „Wo kämen wir da hin?“ © SR Saarbrücken
Bild rechts: Alfred Gulden: „Nur auf der Grenze bin ich zu Hause“ (Literaturland Saar, © Martin Oberhauser)


Was so verblüffend klingt ist Lebenserfahrungslogik. Es gab stets die Unsicherheit, wohin und wem man gehörte. Sicher indes war nur, daß es die Grenze gibt.
„Wo kämen man denn dahin? ’sch weeß et net, dann müßten wer nur einem Kaiser die Steuern bezahlen. So müssen wir zwei Kaisern dienen. Daß dat günstig wäre oder ungünstig – dat weiß ich net“, sagt Maria Theobald im moselfränkischen Dialekt, den man auf beiden Seiten der Straße spricht.
Nie umgezogen?
Einmal doch, zwangsweise evakuiert, vor Hitlers Armeen in Sicherheit gebracht an die Atlantikküste.
Mit „Grenzfall Leidingen“ setzte Alfred Gulden 1983 der Jahrhundertzeugin Maria Theobald eindringlich ein filmisches Denkmal.
Sein Interview mit ihr inspirierte Frankfurter Studenten der Kulturanthropologen zu ausgreifenden studentischen Feldforschungen, dokumentiert in „Leben an der Grenze“ (1986).

Bild links:„Gute Nachbarschaft“ , Mental Map 2011 / Bild Mitte: Frankfurter Judengasse (Stadtplan 19. Jh.)
Bild rechts: KALMAN MAIRA/MEYEROWITZ RICK, New Yorker © Condé Nast.

Grenzen in der Stadt
Gated Communities, Restricted Areas, Ghettos. Zum Marginal-man-Konzept der Chicagoer Soziologenschule

Wie Grenzen dargestellt werden
Ausdehnung und Grenzen der Alltagsmobilität: Mental maps und andere „Landkarten aus dem Kopf“

Symbolische Grenzen und „Grenz“-Metaphorik
„Rote Linie“, „Gürtellinie“, „Grenze des guten Geschmacks“ und andere Tabu-Markierungen; „Grenzen des Wachstums“

Theoretische Zugänge zum Thema Grenze

  • die transitorische Grenzerfahrung
  • die expansorische Grenzpraxis
  • der regulierte Grenzkontakt
  • Weltoffenheitsideal und menschliches Eingrenzungsbedürfnis

    Bild links: Grenzstein Kurfüstentum Mainz 1806
    Bild Mitte: Frankfurt, Stadtgrenze Bockenheimer Warte, © Eva Kröcher GNU Free Documentation License
    Bild rechts: SZ vom 23.1.2020